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Phekt

Geschichten aus dem Hip Hop-Universum und benachbarten Galaxien.

20. 6. 2011 - 13:34

Frühling in Sibirien

Deutschsprachige Rap-Musik in Sibirien, kann das funktionieren? Subkulturen und Festivals in Barnaul und Hip Hop in Omsk. Ein kleiner Reisebericht von einer Tour mit Fiva.

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, als DJ gemeinsam mit Fiva durch Sibirien zu touren. Das Goethe-Institut hat uns zu dieser Reise eingeladen. Vom südlichen Barnaul über Nowosibirsk nach Omsk.

Zugegeben: Mein Wissen über das Leben in sibirischen Städten war mager und von Vorurteilen geprägt. Auf meiner imaginären Reise-Checkliste war daher der erste Platz von einer dicken Winterjacke belegt. Gefolgt von langen Unterhosen, Mützen und sonstigen Winter-Accessoires. Alles Blödsinn, wie sich nach kurzer Recherche über die lokalen Wetterbedingungen im Mai herausstellen sollte. Sibirien kann zwar mit -45 Grad Celsius von Oktober bis März richtig kalt und ungemütlich sein, wer im Mai dorthin reist, darf aber mit 20 Grad plus rechnen. Die erste Überraschung.

Flughafen Barnaul

Alex Hertel

6 Uhr morgens in Barnaul. Nach knapp 15 Stunden Reisezeit sind wir in Sibirien.

Live in Barnaul

Unser erstes Ziel war Barnaul. Eine unscheinbare Stadt ohne erkennbares Stadtzentrum oder Fußgängerzonen, wie man das aus westlichen Metropolen kennen. Die Flotte der öffentlichen Verkehrsmittel besteht aus einer Mischung aus ausrangierten Bussen deutscher Städte (die alten Etiketten wurden nicht entfernt) und uralten Straßenbahnen aus Tschechien.

Nach einer abenteuerlichen Anreise über Moskau sollten wir an einem Mittwoch Abend in der "Che Guevara"-Bar unser Russland-Debut geben. Mit deutschsprachiger Rap-Musik. Und nagelneuen Technics-Plattenspielern. Noch eine Überraschung. Denn die technischen Voraussetzungen hatten mir im Vorfeld ungerechtfertigterweise Kopfzerbrechen bereitet.

Fiva in Barnaul

Alex Hertel

Die russische Übersetzung von Fivas Texten wurde in weiser Voraussicht auf eine Leinwand gebeamt.

Geschätzte 100 Leute verfolgten aufmerksam die Show, ihre Reaktionen waren überraschend positiv. Die Sprachbarrieren doch kleiner als gedacht, denn die deutsche Sprache ist in Sibirien weiter verbreitet als man annimmt. Noch immer leben ungefähr 350 000 so genannte "Russlanddeutsche" in Sibirien, wobei nicht alle deutsch sprechen.

Nach dem Konzert hatte ich die Gelegenheit, den Münchner Ethnologie-Studenten Christian Buchner kennenzulernen. Er hat einige Jahre in Barnaul gelebt und dort die Entstehung lokaler Subkulturen, insbesondere die elektronische Musikszene, beobachtet. Laut Christian gibt es in Barnaul erst seit ein paar Jahren eine schnelle Internet-Verbindung, seitdem hat sich die Musiklandschaft drastisch verändert. Lokale DJs, die früher keine Möglichkeit hatten, Platten zu kaufen, haben jetzt endlich Zugang zu jener Musik, die sie gerne auflegen möchten. Dubstep, Drum & Bass, Techno dominieren dabei in den Clubs.

Barnaul

Alex Hertel

Wobei: Die russischen Behörden legen den Veranstaltern und Clubbetreibern immer wieder Steine in den Weg. Die Entstehung von autonomen Subkulturen bedeutet gleichzeitig "Kontrollverlust", das wird nicht gerne gesehen. Viele Clubs werden nach einem Monat geschlossen, die Veranstalter schikaniert.

Anders sieht es bei Festivals aus: Die finden oft außerhalb der Städte in der Nähe von Wäldern und Flüssen bei Camping-Plätzen statt, in do-it-yourself-Manier selbst organisiert, ohne Werbung, Branding und kommerziellen Hintergedanken. Laut Christian nimmt jeder eigenes Essen und Trinken mit, wer kein Geld hat, wird von Freunden eingeladen. Merchandise, Bars oder Essens-Stände gibt es nicht. Teilen und kollektives Handeln und Denken: Eigenschaften, die für den Münchner völlig ungewohnt waren - und, die er in Deutschland und Österreich bei Festivals vermisst.

Man muss wissen, dass das durchschnittliche monatliche Einkommen in Sibirien ungefähr 250,- Euro ausmacht, die Lebenserhaltungskosten aber ständig steigen. Für eine 1-Zimmer Wohnung in Barnaul bezahlt man mittlerweile fast 300,- Euro. Dementsprechend haben viele Menschen zwei, zum Teil sogar drei Jobs, um sich und ihre Familie über die Runden zu bringen. In Kombination mit den langen und sehr kalten Wintern und oft fehlenden Perspektiven, ein nicht immer einfaches Leben.

Mit "Brother Louie" nach Nowosibirsk

Die Taxifahrt von Barnaul nach Nowosibirsk dauert etwa vier Stunden. Birkenwälder und unendliche Ebenen dominieren das Bild entlang der Bundesstraße. Hier wird mir erstmals klar, warum sich Sibirien früher als Ort der Verbannung angeboten hat. Der Taxifahrer, ein schweigsamer Mann mit Hang zum Gasfuß und riskanten Überholmanövern, liefert den passenden Soundtrack: 80er Jahre Pop-Musik, geprägt von Modern Talking, die in Russland deutliche Spuren hinterlassen haben. Die Synthie-Presets von "Cherry Cherry Lady" hab ich gefühlt in 100 verschiedenen russischen Pop-Produktionen gehört, die Harmonien von "Brother Louie" sollten uns bis nach Hause verfolgen.

Plakate in Nowosibirsk

Alex Hertel

Das Konzert in Nowosibirsk wurde flächendeckend in der Stadt plakatiert. Das musikalische Highlight der Tour.

Unser Terminplan für Nowosibirsk war voll: Konzert bei der Eröffnung der "Man spricht deutsch"-Ausstellung, danach Live-Show in einem renommierten Club plus anschließender DJ-Session, am nächsten Tag Rap- und DJ-Workshop in einem Museum. Das lokale Goethe-Institut hat sich gut um uns gekümmert, die Konzerte in Nowosibirsk waren vom Publikum und der Stimmung vergleichbar mit Fiva-Shows in Österreich oder Deutschland. Wir haben sogar lokale MCs kennengelernt, die am Abend ein paar Gast-Verse auf der Bühne präsentiert haben.

Live in Nowosibirsk

Alex Hertel

Fiva live in Nowosibirsk. Die Crowd hat sogar euphorisch "Daaas iiist Kchlaainkuunst" mitgegröhlt.
Workshop in Nowosibirsk

Alex Hertel

Rap- und DJ-Workshop in Nowosibirsk.

Mit dem Nachtzug nach Omsk

Letzter Teil der Sibirien-Tour war Omsk. Im Abteil des Nachtzuges, das wir uns mit einem russischen Lokführer und einem betrunkenen Gleisarbeiter geteilt haben, wurde das Klischee der musikalischen Verwirrung ein weiteres mal bestätigt:

Sergej, der Lokführer, hat uns stolz die Playlist seines Mobiltelefons vorgespielt: Scooter, Dr. Alban, Haddaway, 2Unlimited ... und natürlich Modern Talking.

Omsk ist eine interessante Stadt mit Skulpturen, wunderschönen Gebäuden und viel Kunst im Stadtbild. Die Veranstalter haben sich leider mit der Planung für unsere Konzert etwas übernommen. Die Location, die von der Dimension mit dem Wiener WUK vergleichbar war (Fassungsvermögen etwa 700 Personen), war dann doch etwas zu groß für eine in Omsk völlig unbekannte deutsche Rapperin mit DJ. Die 150 Leute, die den Weg in den Club gefunden haben, waren aber in Feierlaune. Zu unserer großen Überraschung hatte sogar ein Gast aus Nowosibirsk die achtstündige Reise auf sich genommen, um uns in Omsk noch einmal zu sehen.

Nach dem Konzert haben wir die lokale Hip Hop-Szene kennengelernt. Auf Einladung von Nikita, einem Veranstalter und Shop-Besitzer, sind wir in ein Underground-Studio lokaler Rapper und DJs mitten in der Stadt gefahren.

Omsk

Alex Hertel

"Underground" im wahrsten Sinne des Wortes: In einem Hinterhof musste man über einen unscheinbaren Abgang in das Studio der Omsker Crew klettern. Dort befindet sich ihr Studio, Chill-Areal und ein Party-Raum mit Plattenspielern und einer Soundanlage.
Omsk Studio

Alex Hertel

Improvisierte Aufnahmekabine im Kellerstudio. Dort entstehen populäre Rap-Tracks diverser Künstler aus Omsk.
Omsk DJ

Alex Hertel

Spontaner DJ-Battle mit lokalen Plattendrehern.
Omsk Hip Hop-Crew

Alex Hertel

Unsere neuen Freunde in Omsk. Nikita (im Bild rechts) versorgt mich jetzt regelmäßig mit russischen Rap-Songs, die ihr in FM4 Tribe Vibes hören könnt.

Wer mit dem Gedanken spielt, Sibirien einmal selbst zu besuchen, dem oder der kann ich diese Reise nur ans Herz legen. Es ist erstaunlich, wieviel man in einer Woche über ein Land und die dort lebenden Menschen lernen kann. Und wie viele Vorurteile sich nach so einem Trip in Luft auflösen.