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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

20. 6. 2011 - 12:41

Ghostpoet geht um. Oder: Sonar 2

I just wanna live life and survive it.

Bier bei 40 Grad in der prallen Sonne ist nicht jedermanns Sache. Den Menschen, die bei unfassbaren Temperaturen zu Kidkanevils abstract Hip Hop Set abgehen scheint es aber recht gut zu bekommen. Kidkanevil spielt einen futuristischen Hip Hop, der sich aber in der Prägnanz und Schärfe deutlich von den verspielten, basslastigen, psychedelic Exkursionen eines Flying Lotus und seiner Brainfeeder Posse unterscheidet. Kidkanevil selbst nennt es "imaginary Hip Hop".

DJ Zinc, der vor Katy B. das Zelt zerlegt, hat auch einen schönen Genrebegriff für sein roughes Post Drum´n Bass Musikschaffen erfunden: Crack House.

natalie brunner

"Wile Out", die Nummer die er mit Miss Dynamite gemacht hat, mauserte sich zum veritablen Hit und auch für seine Produktionen mit Katy B. wird er allerorts gelobt.
Apropos Katy B.: Warum drehen ganz Großbritannien und sämtliche Besucherinnen hier wegen Katy völlig durch und hierzulande wird ihr Album "On a Mission" überhaupt nicht wahrgenommen?

sonar byos garcia

Wie dem auch sei, ich schaffe es nicht, Katy B. zu sehen, da ich nicht niedergetrammpelt werden möchte, und verziehe mich zu einer Bühne, vor der die Verhältnisse nicht wie in der Tokioter U-Bahn zur Rush Hour sind.

sonar byos garcia

Die Sonar bei Tag hat insgesamt vier Bühnen: Das Zelt der Music Academy (wo die meisten DJs spielen und es partytechnisch am konkretesten zur Sache geht), die Village Stage (wo Bands und Liveacts wie jetzt gerade Little Dragon spielen) und die unteriridischen dunklen Indoorstages, die den abstrakteren, sinisteren Zeitgenossen zugeteilt werden.
Dahin zieht es mich auch im Moment. Die schwedische Elektronik-Band Little Dragon ist mir nämlich etwas zu gut gelaunt und lebensfreudig.

sonar byos garcia

Nicholas Jaar zu sehen bzw. zu hören, kann ich gleich vergessen, da hätte ich mich eine Stunde vor Beginn in Warteposition bringen müssen. Aber nicht mit mir! Kein Hype der Welt ist mir eine Stunde Wartezeit wert, und es wird schon der Tag kommen an dem ich ein volles Set bzw. den Liveact mit drei Muiksern im Club meines Vertrauens hören werde. Rede ich mir ein, um mich nicht zu ärgern.
Stattdessen steht, Hurra Hurra, Kunst auf dem Programm: "I'll be your mirror", diesen Velvet Underground Titel hat sich die Sonar als Motto der diesjährigen Ausstellung erwählt.

"Technology reflects what we are without us noticing", eine simple und interessante Arbeitshypothese liegt den ausgestellten Arbeiten zu Grunde.

natalie brunner

Da gibt es eine mit einer Kamera verbundenes Gewehr, das Portraits schießt, die mit Sounds, die man von sich gibt, erstellt werden. Oder die phantastische Photobooth, die Portaits macht, die den emotionalen Ausdruck verstärken.

natalie brunner

Man könnte sich hier noch stundenlang vergnügen, aber mein Rendez-Vous mit dem Herrn, wegen dessen Auftritt ich diese Jahr hauptsächlich zur Sonar gefahren bin, rückt näher: Ghoestpoet.

natalie brunner

Vor einigen Monaten sah ich das Video zur ersten Single und war Fan. "Cash and Carry me home" ist eine sehr gelungene Meditation über die Dämonen, mit denen man Sonntag Früh bzw. Mittag bzw. Abend zu kämpfen hat. Eine Nummer über die Zeit, zu der man verwirrt bis zum geht nicht mehr nach Hause taumelt, sich darüber ärgert, dass man einiges an Substanz verschwendet hat zwischen Bar, Toiletten und Bassbox und sich zu fürchten beginnt, dass die morgendliche Leere bis zum nächsten Mittwoch dauern könnte.

Ich stieß dann ein paar Wochen später auf das - auf Gilles Petersons Label erschiene - Debüt-Album "Peanut Butter Blues & Melancholy Jam" und war ein noch hysterischerer Fan. Ich weiß, es ist völliger Schwachsinn, mit Superlativen wie Album des Jahres um sich zu werfen. Aber Ghoestpoet schafft es, mich auf sprachlicher und musikalischer Ebene in seinen Bann zu ziehen. Es ist noch nicht so lange her, dass Bassmusik den Popkosmos erobert hat und Ghospoet schafft es auf "Peanut Butter Blues & Melancholy Jam" Hörgewohnheiten zu brechen die sich gerade etablieren.

Ghostpoet kommt aus dem Schattenreich, ist eine gebrochene Geisterstimme, die nach der letzten Afterhour in unserem Kopf zu spuken beginnt und uns Mantras in den Kopf pflanzt die tagelang nicht mehr verschwinden. Einmal "Survive it" hören und es wird nie mehr etwas anderes in eurem Kopf laufen, wenn ihr des Nächtens mit Kaffetasse in der Hand um die dunklen Ecken eurer Nachbarschaft zieht.

Die sprachliche Virtuosität und die teilweise kryptisch verspulte Tiefe von Ghoestpoets Reimen, lassen einen lange nicht los. Es ist ein Album, das es tatsächlich geschafft hat, mir neue Perspektiven zu eröffnen, darüber wie
Leben und Träume sich gegenseitig hineinpfuschen und wie man sich selbst bei größten Katastrophen wieder in Balance schupfen kann: "Seeing life from my granddad's eyes". Ein Album, dessen mehrmaliges Hören mir wahrscheinlich hunderte Euro an Psychotherapie-Kosten spart. Soll ich das Ghostpoet sagen? Nimmt er es als Kompliment oder ist es der beste Weg, um einen Interviewpartner völlig zu verschrecken?

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