Erstellt am: 19. 6. 2011 - 16:42 Uhr
Bitte keine Tsunami-Metaphern!
Drei Wochen lang im Mai habe ich das Internet nur zum email-Lesen benutzt. Nicht aus einer selbstauferlegten Web-Fasten-Spielerei, sondern schlichtweg aus zeitlichen Gründen. Ich habe kein Online-Tagebuch geführt und auch nicht auf Twitter darüber berichtet, warum das Leben ohne Facebook soviel mehr Qualität bietet. Nach den drei Wochen begab ich mich zum RSS-Reader meines Vertrauens. Meine schlimmsten Erwartungen bestätigten sich. In der Klammer hinter der Rubrik "ungelesene Artikel" hatte sich die fettgedruckte Zahl "1000+" breit gemacht. Wobei das "+" eine dankenswerte Untertreibung war. Im Angesicht dieser Informationsflut und der daraus resultierenden Zeitinvestition von mehreren Stunden blieb mir nur eine Möglichkeit. "Alle Artikel als gelesen markieren", von 0 beginnen und nicht weiter darüber nachdenken.
Und was habe ich versäumt? Eigentlich nichts. Ein paar lustige Videos dürften mir entgangen sein, ebenso die eine oder andere Entdeckung in den Gebieten Archäologie, Weltraumforschung und Katzen. Doch auch mein symbolisches Kapital hat in dieser Zeit kaum gelitten. Denn je weniger ich tweete, desto mehr Follower habe ich. Liegt das an der fehlenden Relevanz meiner Selbstinszenierung? Der mangelnden Qualität meines Informations-Outputs?
http://de.wikipedia.org/
twentytwenty
Das Symposium Twenty.Twenty widmet sich in seiner fünften Ausgabe dem Thema "Social Information Management."
Keynote-Speaker bei der Veranstaltung am ist Manfred Faßler von der Goethe-Uni Frankfurt.
Termin: 22. Juni 2011 ab 18.30 Uhr
Ort: The HUB Vienna
Neben der quantitativen Menge verändert sich auch die Verfügbarkeit von Information. Das Internet wartet permanent in der Hosentasche, statt Angst vor Hodenkrebs bevorzugen wir die Möglichkeit, der Welt mitzuteilen, wo wir gerade sind. Vielerorts ist die Rede vom Ende des Journalismus. Die klassische Gatekeeper-Funktion ist angeblich unnötig geworden, seit jedem Menschen ein Maximum an Information zur Verfügung steht. Doch wenn ich mir selbst meine Informationen zusammen suche, wie kann ich dann noch überrascht werden? Wer sorgt dafür, dass ich auch in solche Sphären vordringe, die außerhalb meines Kasteldenkens liegen?
Deshalb suchen wir uns neue Gatekeeper. Dies sind aber keine Leitartikler antiquierter Holzmedien mehr, sondern Menschen (wieder einmal meistens Männer), die viele Follower haben. Denn wer viele Follower hat, muss interessant sein. Wir retweeten diese Menschen und hoffen, auch irgendwann einmal in die handverlesene Leser-Liste aufgenommen zu werden. Gelesen werden ist der Ritterschlag des 140-Zeichen-Universums.
Radio FM4/Roland Gratzer
Aber es gibt Hoffnung. Nachdem der Terminus "2.0" Mainstream geworden ist, musste schnell was Neues her, um dem erlauchten Kreis der Auskenner einen neuen Avantgarde-Anstrich zu verpassen. Jetzt geht es also Richtung 3.0. Das Netz lernt denken, so sagt man. Algorithmen entscheiden, welche Information als relevant eingestuft wird und ich dann überhaupt zu sehen kriege. Auch wenn die Technik bisher eher theoretisch bleibt, für ein paar Startups haben solche Slogans immer schon gereicht.
Das Jammern über das achso große Übermaß an Information und die panische Angst vor der Unbewältigbarkeit des Datenflusses ist aber - wie so oft in diesem diskursiven Feld - ein Luxusproblem. Denn viele NordkoreanerInnen dürften immer noch glauben, dass sie im wunderbarsten Land der Erde wohnen. Doch es braucht kein Extrembeispiel für den Beweis, dass der Großteil der Erdbevölkerung noch immer vom lebensnotwendigen Informationsfluss ausgeschlossen ist. Solange angeblich noch immer zehn Prozent der US-AmerikanerInnen glauben, dass Barack Obama Moslem ist, kämpfen wir immer noch gegen ein "zu wenig" an Information. Die vielbeschworene Flut ist nebensächlich. Und Tsunami-Metaphern generell unangepasst.