Erstellt am: 18. 6. 2011 - 11:30 Uhr

Everything for sale oder: Sonar 1

DJs maniküren sich die Fingernägel und gehen zum Frisör, es ist wieder Sonar-Zeit.

An die hundertausend Freundinnen von elektronischer Musik und Partyexzessen wälzen sich an diesem Wochenende durch die Altstadt und Clubs von Barcelona. Eine Stadt, die gerade dabei ist an einem Tourismusinfarkt zu sterben.

Unfreundlichste, aggressiv brüllende Lokalbesitzer, die mit sozialer Verachtung auf die Frage reagieren, ob man etwas mitnehmen kann, ohmächtig in ihren Rollstühlen liegende Gestrandete in den Ubahnstationen, Zivilpolizisten, die Easyjetraver auf der Straße perlustrieren, die Demonstranten an der Plaça de Catalunya, die mit Plakaten die Polizeiübergriffe gegen sie vor einigen Wochen in Erinnerung halten, machen das Zentrum von Barcelona für mich zu einem entgleisten urbanen Albtraum und sicher nicht zum Ferienziel meiner Wahl, aber ich habe ja eine Mission:

Das Sonar, das Festival für Advanced Music und Multimedia Art reflektiert dieses Jahr in Konzept und Design den Kapitalismuskollaps, in dem Spanien sich befindet.

natalie brunner

Sonar is for sale, steht in einem Brechreiz evozierenden, an Diskontsupermärkte erinnernden Layout auf den Flyern und Plakaten des Festivals. Das Logo ist ein umgedrehter Euro und seit Monaten preist ein schmieriger Typ namens Mr. Samaniego den über Ebay zu ersteigernden DJ Pass und den Ego Pass an.

sonar

Der Ego Pass erlaubt einem für 20 sec seine Fresse, oder was auch immer man will, auf die große Leinwand beim Sonar bei Nacht zu projizieren, in den Messehallen mit der Trommelfell zerschreddernden Akustik. Mit dem DJ Pass kauft man sich einen Auftritt bei dem Festival. Die Ebay Versteigerung ist schiefgegangen und so ist der Privatisierungsschleimbatzen Inhaber des DJ Pass.

Ich bin neugierig, was die Kuratoren sich einfallen lassen und wie sie die Inszenierung zur Auftrittszeit des Inhabers des DJ Passes auflösen werden.

Es ist auf jeden Fall kein uninteressanter Kommentar zu dem Prozess, den Barcelona durchlaufen hat. Manche nennen es Erneuerung und Modernisierung, andere nennen es Ausverkauf und kulturelle Zerstörung, die die Funktion von Kultur einzig in einem marktwirtschaftlichen und touristischen Kontext sieht. Ich finde es interessant und selbstreflexiv, dass ein Festival, das seit 18 Jahren läuft, viel Geld und Aufmerksamkeit für Barcelona schafft und auch kritisiert wurde, zu wenig auf die lokale Szene und Netzwerke einzugehen, sich mit diesem Thema im visuellen konzeptuellen Erscheinungsbild auseinandersetzt.

Schon am Donnerstag, dem ersten Tag des Festivals, sind die Straßen, die zum MACBA, dem Museum zeitgenössischer Kunst, dem Austragungsort des Sonar bei Tag, zu einem kleinen Markt geworden. Alles was irgendwie mit Party und elektronischer Musik zu tun hat, wird verkauft. Was das "Bier formte diesen Körper"-T-Shirt in Mallorca ist, ist hier das Vinyl-Addict-Shirt.

natalie brunner

Die Disco-Edit-Könige Tiger and Woods, der Melancholie-Housemeister Nicolas Jaar, der britische MC Ghost Poet, Katy B, die Reggae-Selecta-Legende David Rodigan, der kanadische Tropical Beats DJ Porrier, Ex-Battles-Sänger Tyondai Braxton, Discodeine, Cosmin TRG stehen auf meiner Muss-ich-unbedingt-sehen-List fürs Sonar bei Tag.

sonar carles rodriguez

Der erste ist Chillwave-Chef Toro y Moi aka Chaz Bundick, der am Donnerstag Nachmittag bei sehr unchilligen Temperaturen eines der ersten Konzerte spielt. In der Live-Inkarnation ist Toro Y Moi eine Band mit Schlagzeug, Gitarre, Bass und Chaz selbst am Keyboard. Es ist verhalltes Indiezeug mit Dramaspitzen im melancholischen Raunen, Funkausbrüche, die aber dann schnell in den emotionalen Sog zerfließen. Immer wieder schön, aber nach seinen vielen Festivalbesuchen, die ich miterleben durfte, nichts Neues.

natalie brunner

Großer Spaß erwartet mich hingegen auf der Bühne der Music Academy: Aeiou aus Gudalajara erwarten mich im Ganzkörper-Glitzeranzug. Pfeifen in bester Kill-Bill-Manier zu mexikanischen psychedelischen Gitarren.
Wie hält die die Hitze aus?

natalie brunner

Als nächstes spielt der kanadische DJ und Producer Poirier ein Set, in dem er Dancehall, Soca, Cumbia und Electro House mixt.

natalie brunner

Dem Ort entsprechend spielt er selbst von Dancehall-Nummern spanische Versionen und auch der MC spricht spanisch. Das Publikum, das an diesem Tag noch nicht zum Großteil aus Touristen besteht, liebt ihn dafür. Schlachthof Bronx, die am Freitag in den 40-Tausend-Menschen-Ravehallen spielen werden, sind auch bereits eingetroffen und üben ihr Bad Boy Image.

natalie brunner

Ich hab den ersten Sonnenbrand des Tages, muss wieder einmal feststellen, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sich für Festivals ambitionierte, genau getimte Programme zurecht zu legen. Tausche meinen kleinen Notizblock und Die-muss-ich-sehen-Liste gegen einen Pack Getränkebons und taumle, bevor ich kollabiere, in den Keller des MACBA, wo das Sonar Kühle und Kunst zu bieten hat.

Auf der Leider-versäumt-Liste: