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Johannes Grenzfurthner

Von ästhetischen Vernarbungen und phänomenologischer Wollust.

17. 6. 2011 - 10:35

Der Weltraum, das Leben und der Ramov

Eine kleine persönliche Betrachtung über ein theatrales Projekt und eine utopische Idee.

Ich rufe hiermit eine verfrühte Gleichenfeier aus! Denn gerade erst haben wir monochroms die vierte Episode (von insgesamt zehn) unserer Improvistationstheater-Sitcom über das Leben und Leiden auf der Internationalen Raumstation ISS als Video online gestellt.

Das Dramulett nennt sich diesmal "Rendezvous with Ramov" und -- voila! -- hier ist die Aufzeichnung auch schon in HD-Auflösung. Unser Gaststar war in Episode 4 der gute Kollege Alexander E. Fennon (unter anderem bekannt für "Büsch! Büsch!")

Noch vor vier Monaten wussten wir nicht wirklich wie sich das Konzept entwickeln würde, aber bis dato können wir eigentlich sehr zufrieden sein.

Begonnen hat die Sache schon vor langer Zeit. Im Februar 2001 (in einer Zeit als die Prä-9/11-Welt noch so richtig idyllisch war), hatte ich während eines Florida-Urlaubs im Kennedy Space Center (wo die Hamburger mies, aber die Raketen beeindruckend sind) vier blaue NASA-Jumpsuits erworben. Damals war der Dollar noch viel wert und ich von der spontanen Idee befallen worden, dass ein Theaterstück auf der ISS ein faszinierendes Projekt sein könnte. Wie hätte ich ahnen können, dass es über zehn Jahre dauern würde den Geistesblitz dann tatsächlich zu finanzieren und in die Tat umzusetzen. Und dann dafür auch noch begeisterte Fan-Emails und Facebook-Messages von real bei der NASA und ESA arbeitenden Leuten zu bekommen. Yeah!

Raumfahrt war schon immer meine offensivste Leidenschaft. Heute würde ich das wohl das Interesse am "utopischen Potential der Raumfahrt" nennen. Im Jahre 1985 freilich noch nicht. Dennoch entwendete ich im Alter von zehn Jahren die väterliche VHS-Kamera und begann mit der Erstellung kleiner Epen, z.B. des Space-Shuttle-Hängt-Am-Schnürl-Zyklus, bei denen ich zwar meist alle physikalischen und grammatikalischen Regeln brach, aber ich bin noch immer von meiner techno-euphorischen Unschuld gerührt. Selbige wurde mir dann 1986 durch die Challenger-Katastrophe gehörig ausgetrieben.

2011 ist Raumfahrt bizarres Alltagsgeschäft geworden. Keine Helden fliegen mehr ins All, nur noch Angestellte.
Unsere Improv-Sitcom ISS beschäftigt sich mit der impliziten Dialektik, die den Alltag auf einer Weltraumstation kennzeichnet. Zum einen repräsentiert sie die alte Utopie vom "Griff nach den Sternen", zum anderen widersprechen die realen Möglichkeiten (und Grenzen) interstellarer Fortbewegung der Science-Fiction-Idee von der Erforschung und Kolonialisierung des Weltraums und der möglichen Begegnung mit außerirdischen Zivilisationen.

monochrom, eSeL

Das Unerforschte war seit jeher Anlass und Aufhängungspunkt für utopische Erzählungen. Thomas Morus' Text De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia von 1516 schildert die sozio-politische Ordnung der Inselwelt "Utopia" in Form eines fiktiven Reiseberichts. Möglich war dies, weil die Erde zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht ganz erforscht war. Wenige Jahre zuvor war Amerika entdeckt worden und die Tragweite dieser Entdeckung drang erst allmählich ins Bewusstsein der Menschen. Dies ist der sozialhistorische Hintergrund, vor dem Morus "Utopia" entwirft.
Morus' Weltkarte war noch von Unorten (so die wörtliche Übersetzung des Neologismus "Utopia") durchsetzt: ferne, unentdeckte und unerschlossene Gefilden, die der Vorstellung vom "Anderen" Nahrung gaben. In sie ließ sich das Begehren eintragen: Eldorado – sagenhaftes Goldland; Utopia – fernes Gesellschaftsparadies usw.
Dass irgendwo da draußen eine solche Insel existieren mochte, war immerhin vorstellbar. Die weißen Flecken auf den Seekarten waren die Ermöglichungsbedingung, sich etwas vorzustellen, was außerhalb der gegebenen Ordnung lag.

So wurde es möglich, die Totalität und Unverbrüchlichkeit des Bestehenden zu hintergehen. Dies kam einer Legitimation gleich: Das menschliche Vorstellungsvermögen konnte sich so etwas anderes vorstellen, als das, was es unmittelbar vorfand. Das Unbekannte stellte einen exterritorialen Punkt in der eigenen Gesellschaftswirklichkeit zur Verfügung, von dem aus sich diese betrachten ließ. Fremde Welten waren also nicht nur bedeutsam, weil sich dorthin die eigenen Sehnsüchte und Hoffnungen projizieren ließen, sondern ebenso, weil sich durch deren imaginierbare BewohnerInnen von außen auf "uns" blicken ließ.

Die Leerstellen der Weltkarte waren dergestalt voll gesogen mit "Freiheit". Diese Freiheit konnte genutzt werden, um sich andere Formen des Zusammenlebens vorzustellen. Ihre Besieldung wiederum konnte als zivilisatorischer Neuanfang aufgefasst werden – zu gänzlich anderen Bedingungen (etwa einer natürlichen Fülle), wie im Falle Nordamerikas, wo sich eine andere Gesellschaft ins Werk setzen ließ. Dies war die Hoffnung, die zahllose Menschen dazu brachte, "die alte Welt" zu verlassen, mit ganz unterschiedlichen Zielen und doch einer gemeinsamen Hoffnung: sich eine eigene Gesellschaft nach ihren Vorstellungen aufzubauen, seien diese religiöser oder sozialrevolutionärer Art.

Im 18. Jahrhundert war die Erde schließlich erschlossen. Utopische Inselreiche verloren ihre Plausibilität. Etwa zeitgleich geriet ein anderer Raum in den Fokus, ein unerforschter Ort jenseits der irdischen Grenzen: Der Weltraum wurde zur Projektionsfläche für utopische Hoffnungen und dystopische Ängste, die umso plausibler und populärer wurden, je näher die (theoretische) Möglichkeit rückte, dorthin zu gelangen.

Seufz.

public domain

Vereinzelte Beschreibungen extraterrestrischer Zivilisationen hatte es bereits zuvor gegeben, etwa bei Lukian, der außerirdische Gesellschaften (und deren Konflikte) beschrieben hat. Mit der Entwicklung der modernen Aviatik im frühen 20. Jahrhundert wurde dann das – imaginative – Transportproblem gelöst: Mit dem Flugzeug geriet auch die Weltraumrakete in den Bereich der Vorstellbarkeit. Sie bildete die Grundlage für den Boom an Science-Fiction-Literatur seit dem frühen 20. Jahrhundert: Die Vorstellbarkeit von Raumfahrt eröffnete einen schier unendlichen Möglichkeitsraum mit einer Unzahl an vorstellbaren Zivilisationen.

Zumindest im Bereich populärkultureller Imagination war die Erkundung der "fernen Welten und unendlichen Weiten" (wie es im Vorspann der "Star Trek"-Sage heißt) nur eine Frage der Zeit. Der rasante technologische Fortschritt stellte jenen Optimismus zur Verfügung, mit dem sich eine raumfahrende Menschheit weit über die "natürlichen Grenzen" des Sonnensystems hinaus vorstellen ließ, und ebenso, jene fantastischen Welten, gigantischen Monster, unermesslichen Reichtümer, "unvorstellbaren" Sternenkriege, auf die sie dabei stoßen könnte, darunter auch solche Zivilisationen, denen es gelungen war, die ökonomischen, ökologischen und psychologischen Grundprobleme des menschlichen Zusammenlebens zu lösen.

Science Fiction erzählt immer von ihrer Entstehungszeit, deren Probleme, Hoffnungen und Ängste sie in eine spekulative Zukunft projiziert. Dass sich die Zukunftsvorstellungen von gestern häufig oft besonders verstaubt oder antiquiert ausnehmen, wissen wir längst vom Betrachten alter Science-Fiction-Serien, die sich anhand ihrer (designerischen, politischen etc.) Zukunftsvorstellungen meist recht genau datieren lassen.

Parallel zu den ersten Raumflügen hat sich jedoch die wissenschaftlich begründete Einsicht durchgesetzt, dass solche Sternenreisen bis auf weiteres nicht möglich sein werden. Ob die fernen Welten und interstellaren Szenarien der Science-Fiction-Erzählungen tatsächlich existieren, werden wir vermutlich nie erfahren. Ebenso wenig, was es da draußen sonst noch so gibt. Die Realität der bemannten Raumfahrt ist also eine der Ernüchterung, der enormen Kosten und der fragwürdigen Nutzen. Und ihr Glanz ein bescheidener, wenngleich nicht gänzlich unglamouröser.

Die unüberwindlichen Hindernisse bemannter und zeitnaher Fernraumreisen lassen sich aktuell allenfalls spekulativ überwinden. Dadurch verliert der Weltraum zwar noch nicht seine utopische (und dystopische: etwa in Form extraterristischer Aggression) Dimension. Die konkreten Fortschritte im Bereich der bemannten Raumfahrt haben sich vom utopischen Gehalt, der sie – bevor sie selbst in Werk gesetzt werden konnte – begleitet hatte, allerdings längst entkoppelt, denn utopische Behauptungen leben immer von der Möglichkeit ihrer grundsätzlichen Verifizierbarkeit, die eben gerade noch nicht zur Verfügung steht.

Die bemannte Raumfahrt hat als utopisches Menschheitsprojekt ausgedient, weil sie jene Vorbereitungsphase, in der sie aktuell noch steckt, nach unserem bisherigen Wissen, wohl nie überwinden wird. Auch vierzig Jahre nach der spektakulären Landung auf dem Mond scheint Raumfahrttechnologie immer noch in den Kinderschuhen festzustecken. Und es ist mehr als fraglich, ob bemannte Raummissionen innerhalb unseres Sonnensystems (indem mittlerweile keinerlei phantastische Zivilisationen mehr vermutet werden) binnen der nächsten Jahrzehnte durchgeführt werden. Utopisches Vorstellungsmaterial stellen die aktuellen Raumfahrtprojekte nicht mehr zur Verfügung. Arbeit und Leben auf der bislang größten internationalen Raumstation ISS ähneln kaum dem glamourösen Abenteuerleben, wie es Serien wie "Star Trek" entworfen haben. Die AstronautInnen arbeiten dort unter den erschwerten Bedingungen des Weltraums: Schwerelosigkeit, Platzmangel und komplexe Protokolle zeichnen sich eher durch Beschränkung aus, als neue Erfahrungsräume aufzuschließen. Irdischer Komfort und alltägliche Selbstverständlichkeiten müssen unter erheblichem Kostenaufwand mehr recht als schlecht simuliert werden.

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Das reale Leben auf der ISS entspricht jedoch auch einer besonderen Modellsituation. Die AstronautInnen können sich dort kaum aus dem Weg gehen. Sie sind aufeinander angewiesen und müssen ihre Konflikte konstruktiv lösen. Zudem stellt die ISS ein internationales Gemeinschaftsprojekt dar. Sie symbolisiert jene Kooperation, die an die Stelle der Raumkonkurrenzkonstellation des Kalten Krieges (das historische "Space race") getreten ist. Da der Kalte Krieg vor allem auf der symbolpolitischen Ebene stattfand, war die schrittweise Eroberung des Weltraums auch immer ein Versuch, die Überlegenheit des eigenen Gesellschaftsmodells zu demonstrieren. Juri Gagarins erste Raumreise sowie Neil Armstrongs Spaziergang auf dem Mond waren vor allem eines: Propaganda. An ihre Stelle ist mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz die Demonstration von Zusammenarbeit getreten. Auch dies ist ein ideologisches Projekt.

Das aktuelle Versprechen der Raumfahrt bestünde also in der Fähigkeit, zusammenzuarbeiten und das in nationalstaatlichen Institutionen organisierte Know-how zusammenzuschließen.
Und natürlich repräsentieren AstronautInnen, die sich von der heimatlichen Scholle und jenen Ideologien, die daran haften, gelöst haben, um einen Raum zu betreten, indem es weder Horizont, noch Unten und Oben gibt, immer auch jenes weltbürgerliche Subjekt, von dem schon viele Utopien geträumt haben. Weltraummissionen werden aktuell von Menschen durchgeführt, die ihre Herkunft überwinden und ihre Heimat verlassen. Sie setzten sich dergestalt über deren Hypostasierung in ganz unterschiedlichen Ideologien hinweg. Es geht also nicht darum, einen neuen Raum zu finden und zu besetzen, sondern einen alten zu verlassen: Auch wenn wir keine fernen Welten erobern werden, können wir diese doch aus den Angeln heben, wenn wir – wie Archimedes es verlangte – einen festen Hebelpunkt in der Luft zur Verfügung hätten: eine internationale Raumstation.

Diese Raumstation, in ihrere räumlichen und möglichkeitstechnischen Eingeengtheit, und die Leute, die in ihr und um sie herum arbeiten, bietet schönen Platz für ironische Reflexion über den Alltag in der Außergewöhnlichkeit. Wenn wir diese Geschichte als 10-teilige, improvisierte Geschichte erzählen können, und dabei auch noch etwas unterhaltsam sind, dann sage ich gerne: Prost! Und Ignition Sequence Start!

monochrom, eSeL

Die nächsten Live-Aufzeichnungen finden in Berlin im Theater "Ballhaus Ost" statt... am 23., 24. und 25. Juni 2011. Die Videos landen dann aber natürlich wieder auf unserer Homepage.