Erstellt am: 16. 6. 2011 - 17:39 Uhr
Journal 2011. Eintrag 117.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit dem hierzulande nicht wirklich durchgedrungenem Thema des Münchhausen-Phänomens im Netz. Wie mittlerweile News-Profis durch Hoaxes Aufmerksamkeit erregen, weil sie wissen, dass die Menschen gierig darauf sind betrogen zu werden.
Vorgabe: Die Menschen lieben es, das Abstruse und Unwahrscheinliche zu glauben, egal ob Weltuntergang per Maya-Polsprung oder wilde Tratsch-Story. Die Menschen betteln deshalb ununterbrochen darum, betrogen und gelinkt zu werden. Seit jeher.
Ein großer Teil der Zivilsationsgeschichte, jedenfalls aber der Kapitalismus fußt auf diesem Prinzip.
Fakt: Während die meisten Menschen auf diesen Prinzip Geschäftsmodelle aufbauen, die tadellos funktionieren und gesellschaftlich sanktioniert sind, bekommen die wenigen, die das Abstruse, das sie von sich geben, weil sie einem inneren Zwang folgen, einen pathologischen Begriff umgehängt: Sie leiden am Münchhausen-Syndrom.
Der Name ehrt den bekannten Lügenbaron, die Krankheit beschreibt den Zwang zum Dauer-Gschichtldrucken.
Und weil das immer dann, wenn sich ein neues Medium, ein neuer Verbreitungsweg etabliert, besonders stark boomt, haben wir aktuell eine Internet-Schwemme, besonders im Bereich von Gesundheitsfragen. Wo viele Menschen herumschwirren, die Antworten suchen und betrogen werden wollen, verdichtet sich die Anzahl der Profi-Betrüger ebenso wie die Anzahl der Münchhausner.
Baron Münchhausen und seine Stellvertreter
Zuletzt kam allerdings ein Phänomen dazu, dass mehr mit dem Münchhausen-Stellvertretersyndrom zu tun hat. Das äußert sich im Erfinden, Übersteigern oder Verursachen von Krankheiten oder deren Symptomen bei Dritten um anschließend die medizinische Behandlung zu verlangen - ich kenne das aus den Law&Order-Krimis.
So nämlich lassen sich die jüngsten Web-Hoaxes, der in erster Linie die alten Mainstream-Medien aufgesessen sind, am besten einordnen.
Tom MacMaster, 40jähriger Amerikaner in Schottland, hatte monatelang glaubhaft den Blog der lesbischen Syrerin Anima Abdallah Aral al Omari A Gay Girl in Damascus geführt. McMasters Einträge wurden trotz des Fehlens von Details, Lokalkolorit und Alltag ungeprüft für bare Münze genommen und weltweit von vielen Medien als authentische Stimme des Protests verkauft.
Klar: Problemregion Syrien, eine Frau und noch eine Lesbe dazu - das ist der feuchte Traum der Chefredakteure.
McManus hatte seine Anima auch mit einer lesbischen Aktivistin namens Paula Brooks flirten lassen - die veröffentlichte jahrelang auf der Seite lezgetreal.com Texte für lesbian rights.
Brooks wurde, nur wenige Stunden nachdem "Anima" aufgeflogen war, ebenso enttarnt: als Bill Graber, 58, straight, aus Ohio.
Tom McMaster ist Anima, Bill Graber ist Paula Brooks
Zwei aktuelle Netz-Symbolfiguren der Selbstbestimmung und des Widerstandes - schlichter Fake.
Die Ausreden der beiden Männer-Macher sind nicht weiter bemerkenswert. Letztlich hätte auf die Frage nach dem Warum? nämlich die Antwort gereicht, die fast immer stimmt: Weil wir's können.
Ich bin hier, das sollten die geneigten UserInnen wissen, weit davon entfernt, moralische Entrüstung zu heucheln und das Netz (es ist nur ein weiteres Outlet) für die Dummheit und Unverschämtheit der Menschen verantwortlich zu machen - deshalb auch die obige Einleitung.
Abseits der Dummbeutel-Berichte der Mainstream-Medien (die heute den Scheiß, den sie gestern selber gebaut haben, zum Skandal der anderen aufblasen - zurecht auf die Vergesslichkeit der von ihnen zur Verblödung hingeführten Menschen rechnend) ist die Rezeption dieser Hoax-Enttarnungen nämlich in alle Richtungen hin kritisch und lösen sogar brauchbare Diskurse über die Frage von Blogger-Identitäten aus.
Das Mädchen aus Damaskus und die Frage der Identität
Und selbst die wirklich dahinterstehende Frage wird behandelt: Weil die reale Umgebung immer mehr an Bedeutung verliert und die virtuelle Welt als zunehmend gleichwertig angesehen wird, reichen dieselben simplen Tricks, mit denen uns ein realer Bauernfänger abzockt, auch im Netz aus: ein Fake-Bild, ein paar Kartenspielertricks und fertig ist die nicht hinterfragte Identität. Und das Mädchen in Damaskus ist ebenso echt wie das Mädchen in der Bäckerei nebenan.
Und wenn man sich genauer ansieht, wie sich McManus und Graber bemüht haben, inhaltlich akkurat zu bleiben und der Sache, die sie mit ihren Kunstfiguren vertreten haben, einen Dienst zu erweisen, dann gibt es keinen Unterschied zu, sagen wir einmal Harriet Beecher-Stowe.
Das geschaffene Bewusstsein dieser fiktiven Charaktere hat bereits ausgestrahlt. Und wie alle guten Romanfiguren bleiben sie echter als Realfiguren, die schon mit ihrer nächsten Aktion wieder die gesamte Reputation verlieren können.
Ist die fiktive Figur echter als die reale?
Und schon wären wir wieder einmal mitten in der Debatte um die Wahrheit und die Abbildung von Wirklichkeit: Verlautbarungs-Journalismus im Dienst der Mächtigen oder fiktional erzählte Geschichten, eingebetteter oder immersiver Journalismus.
These: die Sache mit den Hoaxes ist nicht einmal so schlecht. Nein, die alte Sage mit dem Buben und den Wölfen und der einen Lüge zuviel wird nicht real werden. Die Menschen wollen belogen werden, das nächste lonelygirl15 wartet schon.
Und: anhand solcher Kobuks - auf die wir alle, jeder von uns, schon einmal reingefallen sind oder noch reinfallen werden - reguliert sich die Medien-Wirklichkeit.
Denn Anima ist überall - auch im Fußball. In der Türkei haben Hoaxer einen jungen Kicker erfunden, ihn zu Real Madrid transferiert und damit alle reingelegt. Dass es auf einem der Bilder dieses Fakes Marko Arnautovic war, der im Inter-Trikot steckte, fiel keinem auf.
Die Menschen betteln eben darum betrogen und gelinkt zu werden.