Erstellt am: 14. 6. 2011 - 11:33 Uhr
Elegante Mutanten
Den "X-Men"-Karren, den Gavin Hood mit dem unsäglich dumpfen "Wolverine" 2009 an die Wand und in die Relevanzlosigkeit gefahren hat, den zieht Matthew Vaughn jetzt aus dem Dreck, holt Hochglanzpolitur und das den "X-Men" Comics innewohnende ernste Anliegen wieder hervor. Außerdem noch einen weniger berauschenden Titelsong von fünf Mutanten, die als Geheimkommando "Take That" Frauen in Kreisch-Teenager zurückverwandeln können. Über den Namen des Titelsongs hab ich im Vorhinein noch gehöhnt, daber ist der perfide raffiniert, er drückt aus, was man dem Film gegenüber empfindet, wenn man mit dem Abspann wieder in die echt Welt zurückbugsiert wird: Love Love. Zweimal, weil einmal nicht genug wäre.
20th century fox
Wir kennen Magneto und Professor X aus den ersten drei X-Men-Filmen als gesetzte Herren, als Kontrahenten, die zwar eigentlich das gleiche Anliegen - eine Welt, in der sich Mutanten nicht verstecken müssen - aber große Unterschiede in Sachen Umsetzung dieses Vorhabens haben. "X-Men: First Class" erzählt die Geschichte, wer diese Männer waren, bevor Magneto sein Dasein als Chef der Brotherhood of Mutants begann und Prof X die sanfte Macht an der Spitze der X-Men wurde.
Damals waren sie Charles Xavier (James MacAvoy) und Erik Lehnsherr (Michael Fassbender). In den 1960er Jahren lernen sich die beiden kennen und fusionieren ihre Kräfte für eine Weile. Arbeiten als Geheimtrupp der CIA daran, Mutanten zu finden und deren Kräfte zu bündeln, im Einsatz gegen Sebastian Shaw, der einst als eine Art Dr. Mengele mit den Nazis kollaborierte und Eriks Mutter umgebracht hat. Seither ist Wut der Schlüssel und Auslöser für Magnetos Superkräfte. Seine Mission als Einzelkämpfer, bevor er Xavier begegenete war, Shaw zu finden und zu töten.
Shaw hat ebenfalls Mutanten um sich geschart und plant den dritten Weltkrieg, ein tabula rasa der herrschenden Zustände und ein Neubeginn unter Mutantenherrschaft. Namenstechnisch verzichtet er auf Bescheidenheit oder Euphemismen und nennt seine Bande "Hellfire Club". Kevin Bacon spielt als Shaw den god dieses hellfire, an seiner Seite sind Emma Frost, Azael und eine Art Zoolander-Model zu finden, dessen Superkraft urschön glänzende Haare sind. Ja, und so kleine Wirbelwinde kann er auch entfachen.
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Zu der noch namenlosen Gruppe an Mutanten, den X-Men Taferklasslern, die Xavier und Lehnsherr um sich sammlen, gehören u.a. auch Mystique (Jennifer Lawrence) und Hank (Nicolas Hoult), an denen der Film die grundlegende X-Men-Thematik des "Anders-Seins" abhandelt. Hoult erschafft mit dem wissenschaftlich brillianten, aber unsicheren Hank, der Seitenscheitel und Brille trägt und mit seiner Mutation hadert, in wenigen Szenen einen vielschichtigen, zerrissenen Charakter. Mutant and proud lässt sich leicht predigen für Charles Xavier, dessen Besonderheit sich nicht in seiner Erscheinung zeigt.
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Die 1960er Jahre haben schon lange nicht mehr so schön und wahrscheinlich in echt ohnehin nie so fantastisch ausgesehen. Die Kamera von John Mathieson saugt sich fest an der Schönheit von Objekten, Möbeln, Accessoires und Autos. Ein War Room blinzelt eine Verneigung in Richtung Stanley Kubricks "Dr. Strangelove or how I stopped worrying and love the bomb", das Set-Design ist Retro-Fetischismus in glänzender Reinform, eine Vintage-Verliebtheit, die dem Film unvermutete Eleganz und Stilbewusstsein verleiht. Würde Sean Connery zur Tür hereinkommen und schnoddern, dass er "Bond. James Bond" sei, es würde einen nicht weiter verwundern.
Das hier ist nicht einfach nur ein üblicher Sommer-Blockbuster. Das hier ist auch nicht nur eine übliche Comic-Verfilmung. "X-Men: First Class" wagt das, was in Comicheften üblich, in den Filmen aber selten adaptiert wird: Die Einbettung des Plots in tatsächliche geschichtliche Gegebenheiten. Die Welt der X-Men ist kein Paralleluniversum, sondern eine Welt, deren Geschichte wir kennen, weil es auch unsere ist. Und so sind die frühen 1960er Jahre, in die die Begegnung von Xavier, Lehnsherr und dem CIA fällt, auch die Zeit des Wettrüstens zwischen USA und Sowjetunion. Matthew Vaughn inszeniert eine Kubakrise mit Einmischung des Hellfire Clubs und der Mutanten, die sich Charles Xavier angeschlossen haben. Die Paranoia dieser Zeit, Fortschrittsglaube, die Definition als Supermacht und die Angst vor dem Kommunismus der USA unterwandern "X-Men: First Class", versehen das Superheldenspektakel mit Sprengseln einer realen Vergangenheit. Der Teufel namens Azael, der tatsächlich sowas wie einen Prada-Anzug trägt und nur einsilbige russische Wortfetzen ausspuckt, scheint mit all seiner Übertreibung wie aus politischen Cartoons dieser Zeit entsprungen.
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Und so doppelt der Film die Konfrontationspaare, nicht nur die West/Ost-Ideologien prallen aufeinander, sondern auch Prof X und Magneto, zwei Figuren, die nach Martin Luther King und Malcolm X modelliert wurden. Nicht nur die USA und die Sowjetunion machen ihre Spielzüge, nein auch Prof X und Magneto sitzen des Abends bei Whiskey und Martini am Kaminfeuer bei einer Partie Schach und führen einen Dialog, bei dem der Satz fällt, der Magnetos Wesen skizziert. Peace was never an option. Man will das Gleiche, aber weil der Weg bekanntllich ja doch so oft das Ziel ist, muss man sich trennen und - wenn man Magneto heißt, sich einen wahnsinnig dämlichen Helm aufsetzen, dessen Design der einzige Tiefpunkt des Kostümdesigns ist.
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Ansonsten ist es eine einzige Freude zu sehen, wie die Kostüme die Charaktereigenschaften der zwei Hauptfiguren nicht nur unterstreichen, sondern in edlem Zwirn in die Welt hinausbrüllen. James MacAvoy trägt weiche Stoffe, Strickjacken, Hemden, dunkelblaue Double Breaster Jacken. Michael Fassbender hingegen ist slick, mit schmaler Silhouette ohne Firlefanz tritt er seinen persönlichen Rachefeldzug an, Rollkragenpullover und eine schnörkellose Lederjacke. Glattlederschuhe ohne Schnürsenkel, wenn man Magneto ist, hat man keine Zeit zum Schuhbandelbinden. Die grandiosen Kostüme waren aber natürlich nur die halbe Exzellenz ohne die Männer, die darin stecken. Ein Casting-Supercoup.
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James MacAvoy mit den weichen, runden Gesichtzügen, dem immer wieder mal eine Haarsträhne ins Gesicht fällt ist ideal als Sohn aus gutem Hause, der sich einer akademischen Laufbahn widmet, bevor er als Professor X Leit- und Identifikationsfigur der Mutanten wird. MacAvoy spielt Charles Xavier mit oft beinah kindlicher Energie und unbändigem Glauben an eine funktionierende Gesellschaft, in der Menschen und Mutanten friedlich miteinander leben. Den "Guten" zu spielen, ist immer die weit undankbarere Aufgabe, James MacAvoy nimmt die Herausforderung mit Leichtigkeit.
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"X-Men: First Class" läuft bereits in den österreichischen Kinos
Wer aber mit diesem Film endgültig seine Karriere als verlässlicher Nebendarsteller beendet, ist Michael Fassbender, ein Schaupsieler, der die Fähigkeit hat, trotz markantem Gesicht, hinter seinen Rollen zu verschwinden, das können außer Daniel Day-Lewis nur wenige. Fassbender bringt Qualitäten und Ausstrahlung auf die Leinwand, als würde in Los Angeles immer noch das alte Studiosystem regieren. Merkt euch seinen Namen und meine Worte. Michael Fassbender ist weltklasse. Erreicht durch reduziertes Spiel eine Wucht, die manche nichtmal mit der Übertreibung erreichen. Und so wird "X-Men: First Class" nicht zu einer Karacho-Orgie oder CGI-Schaulauf, sondern zu einem Bruderzwist mit dramatischen Ausmaßen im Shakespeare-Format. Denn, wie hat es nicht grad Ryan Gosling kürzlich so herzzerreißend gesungen You always hurt the ones you love.