Erstellt am: 11. 6. 2011 - 14:18 Uhr
Wir sollten über EHEC reden
Lebt man wie ich in Niedersachsen, also nahe dem Epizentrum der EHEC-Krise, lässt sich ein Eindringen der um sich greifenden Angst vor dem Erreger in den Alltag nicht vermeiden. So forderte ein Studienkollege - nicht zuletzt im Interesse der eigenen Gesundheit - per Massenmail dazu auf, beim Konsum als bedenklich eingestufter Nahrungsmittel Vorsicht walten zu lassen, nachdem ihm seine als Krankenschwester arbeitende Mutter den Schrecken aus erster Hand geschildert hatte. Nicht minder konsequent verhielt sich die hiesige Uni-Mensa. Mit den aufkommenden Warnungen vor spanischen Gurken und Tomaten wurden die meisten Formen von Salat und rohem Gemüse umgehend vom Speiseplan gestrichen. Ironie des Schicksals: Just am ersten Tag der Maßnahmen wurden zum Bami Goreng noch Sprossen gereicht.
Rainer Zenz
Erfreulicherweise scheint sich die Lage seit einigen Tagen zu entspannen. Die Zahl der Neuinfektionen ist mittlerweile rückläufig und nach Wochen der Ungewissheit geben sich Behörden und Experten zuversichtlich, mit den berüchtigten Bio-Sprossen den Ausbruchsherd der Epidemie entdeckt zu haben. Bis es soweit kommen konnte, musste sich das deutsche Krisenmanagement unter der zaghaften Führung des erst vor einem Monat für den neuen FDP-Vorsitzenden Philip Rösler nachgerückten Bundesministers Daniel Bahr jedoch harsche Kritik gefallen lassen. Von undurchschaubaren Zuständigkeiten und umständlichen Behördenwegen war die Rede. Die deutschen Institute und Ämter, so der Tenor, hätten unkoordiniert und behäbig auf die Epidemie reagiert und damit nicht nur wertvolle Zeit im Kampf gegen den Erreger vergeudet, sondern mit denkbar widersprüchlichen Meldungen zu dessen Herkunft in der Bevölkerung Verwirrung und Angst gestiftet. Diese Vorwürfe sind berechtigt und ernst zu nehmen. Dass sich jedoch die Debatte um das Verhalten der deutschen Behörden zusehends auf die Frage beschränkt, ob eine offensive Kommunikationspolitik in solchen Fällen als kontraproduktive Panikmache prinzipiell abzulehnen wäre, scheint mir sehr bedenklich.
Man kennt diese Argumentation nicht zuletzt aus den großen Science-Fiction- und Weltuntergangsepen im Kino. Im Bewusstsein der nahenden Katastrophe beschließen die politischen Führer der Welt - zumeist Amerikaner - mit versteinerter Mine der Bevölkerung die akute Bedrohung zu verheimlichen, um eine ansonsten unausweichliche Massenpanik zu verhindern. Man kennt sie auch vom japanischen Energiekonzern Tepco, der nach dem Reaktorunglück von Fukushima seine Sprecher tagelang bereits stattgefundene Kernschmelzen leugnen ließ. Die in solchen Fällen stillschweigend getroffene Übereinkunft ist denkbar simpel. Der einfache Bürger anerkennt seine Rolle als unkalkulierbarer, potentieller Störfaktor und überantwortet sein Schicksal ohne weitere Kontroll- und Einflussmöglichkeit den - im günstigsten Falle von ihm gewählten - Führungskräften. Ist eine derartige Konstellation bereits demokratiepolitisch bedenklich, so kommt bei der EHEC-Epidemie erschwerend hinzu, dass von einer veritablen Massenpanik nie die Rede sein konnte.
Die einzige erwartbare - und so auch eingetretene - Konsequenz einer offiziellen Warnung vor rohen Tomaten ist, dass die Leute aufhören rohe Tomaten zu essen. Ein solcher Schritt beschert der Tomaten-Industrie zwar empfindliche Umsatzeinbußen, ermöglicht jedoch eine signifikante Eindämmung der Epidemie, sollten die Bakterien tatsächlich durch Tomaten übertragen werden. In dieser Rechnung nun die wirtschaftlichen Verluste in den Vordergrund zu rücken, verkommt in einer Europäischen Union, die mehr als 40 % ihres Budgets in den Agrarsektor investiert, zum fehlgeleiteten Utilitarismus.
Ich kann die grundsätzliche Kritik am deutschen Krisenmanagement nachvollziehen und teilen. Die vielgescholtene Informationspolitik möchte ich jedoch explizit in Schutz nehmen. Dass man mit der umgehenden Veröffentlichung von berechtigten, jedoch unbestätigten Verdachtsmomenten die BürgerInnen als mündige Individuen respektiert und ihre Gesundheit zwischenzeitlich über die Befindlichkeiten spanischer Gurkenbauern und Lübecker Restaurantbesitzer stellt, ist ein Wert für sich und auch in hochentwickelten, demokratischen Industrienationen - siehe Japan - keine Selbstverständlichkeit.