Erstellt am: 9. 6. 2011 - 10:19 Uhr
Das Leben in 64 Feldern
FM4 Schwerpunkt "Schach & Spektakel", am 9. Juni 2011.
Die Informationen zu den Sendebeiträgen finden sich im entsprechenden FM4 Radioprogramm.
Schon ein paar Tage aktive Beschäftigung mit Schach und ich fühle mich als Journalist für Videospielkultur wie in einer Zeitmaschine, ein paar Jahrhunderte in die Zukunft versetzt. Schach ist nach rund 1.500 Jahren an jenem Stellenwert angelangt, wo jedes gute Spiel landen kann, wenn die Aufmerksamkeit nicht schwindet und genügend Zeit vergeht. Schach ist das vielleicht einzige Spiel, das es je geschafft hat, trotz des ewigen Stigmas des unproduktiven Zeitvertreibs (das jedem Spiel innewohnt), sich unwiderruflich in das Wesen der Menschheitsgeschichte zu verankern.
Bloß ein Spiel
Am Ende jeder Kräfte raubenden Partie, jeder peniblen Analyse, jeder soziokulturellen Reflexion bleibt aber auch Schach immer wieder einfach nur ein Spiel. Ein Spiel wie alle anderen Spiele, egal ob sie auf der Straße, am Tisch oder mit Konsole und Controller ablaufen. Doch Schach hat seine eigene Kulturgeschichte, die eng mit wichtigen Personen der Politik, der Kunst, der Psychologie verknüpft ist. Schach ist erhaben über jegliche Zweifel und Vorwürfe eines möglicherweise wieder vorübergehenden Trends, erhaben über ethnische Differenzen und Konflike zwischen Generationen. Es ist nur ein Spiel, doch bei diesem Spiel würde sich jede Person lächerlich machen, die die historische Relevanz und gesellschaftliche Akzeptanz von Schach nicht anerkennt.
Nina Silaeva
"Das Schachspiel ist zu schwer für uns Menschen - aber nur ein wenig zu schwer", zitiert der Wiener Schachexperte und Kulturwissenschafter Ernst Strouhal einen russischen Freund - ein ehemaliger Schachgroßmeister - in seinem Buch "acht x acht - Zur Kunst des Schachspiels" zur Frage nach der Faszination von Schach. Die wirkliche Welt, außerhalb des geschützten und klar reglementierten Raumes des Spiels (zeitgenössische Game-Studies-Forscher/innen würden sagen: außerhalb des magic circle) sei für leidenschaftliche Schachspielende mitunter ein Ort des Chaos und der Unordnung, der sich einer für Menschen fassbaren Logik und Klarheit entzieht. Und doch ist eben auch dieses Spiel in seiner vergleichsweise beschränkten Komplexität nie gänzlich zu meistern.
Anthonis Mor / Public Domain
Das gängige Bild des typischen Schachspielers, ein verschrobener, zum Autismus neigender Mann, der nur mit Hilfe eines Spielbretts kommunizieren kann, sei laut Strouhal zwar kein völlig haltloses Klischee, entspräche dennoch nur bedingt der Wahrheit. Zwar würde Schach einen dunklen Sog in Form einer Weltflucht in sich bergen, der einer Droge gleichkäme, doch seien nicht nur bestimmte Persönlichkeitstypen dafür anfällig. Auch würden Schachspieler abseits der 64 Felder nicht zwangsweise die besseren Mathematiker, besondere Sprachtalente oder generell auffallend talentierte Menschen sein. "Ich habe strohdumme Schachspieler kennengelernt, ich habe mathematisch hochbegabte Schachspieler kennengerlernt, sehr gebildetete, und so weiter.", so Strouhal im FM4-Interview.
Schach als Chance
Ernst Strouhal
Unbestritten ist, dass regelmäßiges Schachspielen die Konzentrationsfähigkeit steigert. Das kommt vor allem Kindern und Jugendlichen zu Gute, die über das Spiel schon in jungen Jahren effizientes Denken trainieren und damit - unabhängig ihres persönlichen Potenzials - schnell lernen, wie man rasch und ohne Umwege organisatorische und intellektuelle Entscheidungen trifft. Motivert werden junge Spieler/innen durch die Möglichkeit, schon mit acht oder zehn Jahren komplett eigenständige Entscheidungen treffen zu dürfen und Erwachsenen auf gleicher Ebene begegnen zu können.
Doch wie fast jedes Spiel ist Schach nicht nur frei von der nicht fassbaren Komplexität der wirklichen Welt sondern auch frei von Ethik, Politik und sozialen Übereinkünften. Das spielende Wunderkind von einst und sein heller Geist können später zu einer fehlgeleiteten, umnachteten Irrheit verkommen, wenn die neutrale Grammatik des Spiels über Jahrzehnte hinweg die einzige Orientierungshilfe im Leben bleibt und außerhalb des Spielbretts keinerlei moralischer Halt geboten wird. Der US-amerikanische Schachgroßmeister Bobby Fischer ist das dafür wohl erschreckendste Beispiel. In seinen Teenagerjahren ein gefeierter Jungstar, wurde Fischer in seinen späten 20ern und frühen 30ern zum überheblichen Angeber, bis er im mittleren und späten Alter einem antisemitischen Wahn verfallen ist, der Indizien auf unaufgearbeitete Probleme mit seinen (jüdischen) Eltern in einer alarmierenden Weise nach außen gekehrt hat.
Bobby Fischer in The Dick Cavett Show, Sommer 1971
Allegorien
Julian Wasser
So sehr man sich in der klaren Welt von acht mal acht Feldern verlieren kann, so sehr können das königliche Spiel, sein Wesen und seine Figuren umgekehrt auch als Allegorie dienen. Schach kann als Katalysator für soziale Beziehungen eingesetzt werden. Sichtbar gemacht werden diese Wahrnehmungen in diversen Kunst- und Medienformen, darunter Literatur, Fotografie, Fernsehen, Film und Videospiel. Durch die unklaren Ursprünge von Schach sind Narration und Symbolik in einem recht breiten Rahmen frei interpretierbar. Ernst Strouhal hat in seinen Recherchen dutzende unterschiedliche Bezeichungen, Bedeutungen und Darstellungen der Spielfiguren sowie verschiedene Lesarten des Kampfs um den gegnerischen König zusammengetragen, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderten angesammelt haben.
Doch wie die Figuren auch aussehen mögen und wofür sie stehen, aus welchem Kulturkreis die Spielerinnen und Spieler stammen und mit welcher Intention sie an eine Partie herangehen - am Schluss werden, vom Bauern bis zum König, alle Figuren immer wieder neu aufgestellt. Die Reise in die Tiefe eines Schachspiels kann weitreichend und verblüffend sein, ihr eigenes, originäres Wunderland noch so ereignisreich und emotional. Am Schluss kann man sich dem Zurückkehren in die Ausgangsposition gewiss sein. Zumindest, was das Spiel an sich betrifft.