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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

8. 6. 2011 - 12:48

Nur der Himmel ist für alle gleich

In deutschen Dörfern geht niemand zu Fuß. Siebzigjährige Omas rasen ständig in ihren riesigen Geländewagen an mir vorbei, während die Omas im bulgarischen Lometz wie ein Fragezeichen verbeugt, langsam den Schafen nachlaufen.

"Guten Tag, Herr Müller! Sie kennen sicherlich die Johanniter Unfallhilfe. Das ist die zweitgrößte Rettungsorganisation Deutschlands. Der Rettungsdienst wird von der Krankenkasse bezahlt, aber viele soziale Dienste unserer Organisation sind auf Ihre Spenden angewiesen. Damit alte Menschen warmes Essen nach Hause bekommen und behinderte Kinder mühelos ihre Schule erreichen können, brauchen wir Sie! Ein kleiner jährlicher Betrag hilft, dass wir unsere Rettungshundestaffel aufbauen! Sehen Sie auf diesen Zettel, das sind der Charlie und der Johnny. Dank Ihrer Spenden haben diese zwei deutschen Schäferhunde letztes Jahr 10 Menschenleben gerettet..."

deutsches Dorf

flickr.com/k4dordy

Deutsches Dorf, Klischeebild

Ich erzähle diesen Quatsch einem Herrn Müller oder Herrn Schmidt heute schon zum 100. Mal. Die Sonne im unterfränkischen Reichenau hat sich gezeigt. Ich glaube, das ist der letzte Herr Müller für heute. Ich setze mich irgendwo auf eine Bank und genieße die seltenen Sonnenstrahlen, die mir dieser Sommer in Deutschland geschenkt hat. Letzte Woche in Hessen wurde ich vom Regen fast ertränkt. Ich bin einer der schlechtesten Mitgliederweber in der Geschichte dieses Berufs. Die vollkommene Unwissenheit, dass der Rettungsdienst eine private Firma ist, und mein slawischer Akzent machen es mir unmöglich, das Vertrauen von Herrn Müller zu gewinnen. Als solcher professioneller Bettler kann man aber durchaus gut verdienen - einige meiner Kollegen betteln so ein halbes Jahr in Deutschland herum, während sie die andere Jahreshälfte in Thailand auf einer Kiffertrauminsel verbringen.

Ich finde meine Bank vor der Dorfkirche. Das Geräusch der Rasenmäher um mich herum bedeutet, dass es in Reichenau bei Würzburg schon Feierabend ist. Meine Gedanken baumeln zum bulgarischen Dorf Lometz, wo meine Oma lebt. In Lometz wird das Ende des Arbeitstages vom Läuten der Glocken der zurückkommenden Schafsherde verkündet. Reichenau steht vor meinen Augen und Lometz ist in meinen Träumen. Ich stelle mir die beiden Dörfer im Computerspielklassiker "Age of Empires" vor. Um in diesem Spiel zu gewinnen, muss man sämtliche Upgrades vor dem Gegner schaffen, damit man das nächste "Age" erreichen kann. Das deutsche Dorf ist eindeutig im nächsten Age.

Reichenau wird von zwei riesengroßen Supermärkten mit Lebensmitteln versorgt. In dem Dorfgeschäft in Lometz, das auch als Kneipe dient, werden nur Kaugummis, Zigaretten, Bier und Limonade verkauft. Alles anderes produzieren die Dorfbewohner selbst.

In Reichenau geht niemand zu Fuß. Siebzigjährige Omas rasen ständig in ihren riesigen Geländewagen an mir vorbei, während die Omas in Lometz wie ein Fragezeichen verbeugt, langsam den Schafen nachlaufen. Vor fast jedem Reichenauer Haus werde ich von Überwachungskameras an der Sprechanlage bergüßt. In Lometz hat niemand eine Sprechanlage, die wenigsten haben eine Klingel. Die Menschen verschließen ihre Häuser nicht und selbst wenn sie es tun, verstecken sie den Schlüssel unter der Fußmatte.

Bulgarisches Dorf

flickr.com/klearchos

Bulgarisches Dorf, Klischeebild

Ich stelle mir vor, ich bin ein Mitgliederwerber in Lometz und fange dabei leise zu kichern an. Von den Einwohnern des Dorfes auf der nördlichen Seite des Balkangebirges haben sicherlich nicht mehr als zehn ein Konto. Das einzige, was sich in Lometz in den letzen 20 Jahren verändert hat, ist dass auf dem Rathausgebäude stolz eine EU-Flagge weht.

Trotzdem weiß ich nicht, ob der Bewohner vom nächsten "Age" glücklicher ist. Hinter seiner Sprechanlage und Kamera, hinter seinen frischgemähten Gärten und hinter dem Lenkrad seines Geländewagens erscheint mir Herr Müller sehr einsam. Sein Leben ist erdrückt von Sorgen. Sachen wie seine Steuererklärung, die Ausbildung der Kinder, die Affäre seiner Frau mit dem Cousin aus dem nächsten Dorf und die Tatsache, dass er ein blöder Bauer ist, bedrücken ihn so sehr, dass er selten lacht. Schließlich sieht man selten weiter als seine Nase und jeder glaubt, dass seine Probleme die größten sind.

Es wird langsam dunkel und ich werde bald abgeholt. Die Vision von Lometz verschwindet mit den letzen Sonnenstrahlen des Tages. Morgen sollen weitere deutsche Bürger um Spenden für die nächsten Upgrades gebeten werden. Nur der Himmmel ist für alle gleich.