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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

7. 6. 2011 - 16:16

Journal 2011. Eintrag 111.

Selbstbild/Fremdbild: wie sich praktisch ganz Österreich mit der Reaktion auf die türkische Retourkutsche lächerlich macht.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit der Umkehr der Erregung rund um das türkische Veto für die arme Frau Plassnik, nämlich: Warum sollte die Türkei denn bitteschön für Österreich stimmen?

Sie habe keine Begründung ihrer Ablehnung erfahren, war Ursula Plassnik in der ZiB2 empört. So empört und ereifert, dass sie Armin Wolf einfach keine Antworten auf die Fragen dahinter geben konnte; ob es denn wirklich so überraschend gewesen wäre; ob man nicht vielleicht strategisch schlauer vorgehen hätte können, vielleicht sogar diplomatisch.

Ja, die Welt der Diplomatie.
In deren Spitzen wollte Plassnik vorrücken, als Chefin der OSZE, dem wichtigen Zusammenschluss der gesamten Nordhalbkugel für Sicherheit/Menschenrechte/Wahlüberwachung etc. Die säßen eh in Wien, in der Hofburg, der Posten wird neu vergeben, da wäre es doch praktisch, wenn...
Auch wenn solche Chefs nur Insidern bekannt sind (ich bitte um kurze Handzeichen - wer kannte den IWF-Chef vor dem New Yorker Zwischenfall?) es macht schon was her. Und deshalb wollte der neue VP-Chef, auch Außenminister, da einen Coup landen.

Übergroße Empörung statt simpler Hinterfragung

Allein: der Hausherr hat auch nur ein Vorschlagsrecht; und die OSZE eine von der UN kopierte Veto-Regel. Und von diesem Veto macht die Türkei im Fall von Plassnik Gebrauch.

Die Empörung darüber hallt seit Tagen quer durchs Land. Unverhohlen und offen.

Die Kronen-Zeitung kann sich in quälender Verzweiflung gar nicht entscheiden, welchen Erzfeind sie heftiger verzerren soll: die verhasste Ex-Außenministerin oder die Gefahr vom Bosporus.

Die Frage nach dem Warum der türkischen Vorgangsweise und der Logik hinter dieser Entscheidung stellt niemand. Da passt sich auch die "Qualitätspresse" an den Boulevard an - gezielte und berechnende (letztlich - wie immer - demokratiegefährdende) Empörungsbewirtschaft und nur vereinzelt traut man sich, über den ein wenig feigen Umweg der austrotürkischen Experten, an den Kern der Sache ran.

Die Frage sollte nämlich genau umgekehrt lauten: Warum sollte die Türkei der Kandidatin Plassnik zustimmen?

Die Fakten sprechen nämlich eine eindeutige Sprache:

Nehmen wir einmal die Fakten und den aktuellen Stand der Dinge.

  • Fakt ist, dass Plassnik als Außenministerin der schwarz-blauen Regierung Schüssel führend in der EU-Ablehungsfront gegen den türkischen Beitritt mitgestrickt hat.

Lustig der Plassnik'sche Einwand, das wäre ja nicht ihre Privatmeinung gewesen - privat haben die türkischen Diplomaten nämlich sicher auch nix gegen Plassnik; aber im vorliegenden Fall geht es um ein hohes internationales Amt und nicht um die Frage, wer den Prosecco zur Party mitnimmt.

  • Fakt ist, dass die vormalige Regierungs-Partei FPÖ seit mehr als nur ein paar Jahren Wahlkkämpfe ausschließlich mit anti-islamischen und anti-türkischen Sprüchen hart an der Volksverhetzungs-Linie fährt. Fakt ist, dass sie dabei vom größten Print-Medium des Landes nicht unterstützt, sondern geleitet wird.

Die Krone ist zwar eh überhaupt für die Abschaffung der EU, aber solange sie existiert, darf der Türke nicht rein.

  • Fakt ist, dass die beiden aktuellen Regierungs-Parteien sich in vorauseilendem Gehormsam rechtspopulistisch aufgeheizter Stimmungen auch seit mehr als nur ein paar Jahren mit Türkei-Blockade-Aktivitäten ihr Image als Beschützer abendländischer Witwen und Waisen aufpolieren.

Und das dann auch noch dem türkischen Botschafter als Ausrede für die eigene Untätigkeit erzählt. Aja, apropos:

  • Fakt ist, dass ein türkischer Botschafter, der nichts anderes als einen reality check unternimmt, sofort quasi-ausgewiesen wird, ohne dass auch nur ein einziger der vielen richtigen und wichtigen angerissenen Fragen (die beidseitige Ghettobildung, das österreichische Desinteresse, die Gleichsetzung Migration/Integration, das Sprach-Debakel, die falsch sortierten politischen Kompetenzen etc.) in den politischen Diskurs übernommen wird.

Alles was passiert, ist, dass ein Nachwuchs-Talent den ganzen Krempel schaukeln muss.

  • Fakt ist auch, dass es jede wirtschaftlich wachsende, hochpotente große Nation wie die Türkei anstinken würde, wenn die Top-Jobs wieder nur unter den alten, muffigen Nationen der alten Nomenklatura vergeben werden, noch dazu womöglich an die Hausherren, die eh UN- oder OPEC-Zentrum sind, also diplomatisch und politisch in der Mitte der Welt stehen.

Das mangelnde Gefühl für Reaktion berührt einen peinlich

Das alles liegt auf dem Tisch, und trotzdem verlangt eine Spitzendiplomatin, eine ehemalige Außenministerin eine "sachliche Begründung".
Als ob die internationale Diplomatie jemals eine wirklich sachliche Begründung für irgendetwas getätigt hätte. Diese ihre Profession, ja Kunst, ist ausschließlich darauf ausgerichtet Ausreden in Form verschleiernder aber wohlig duftender Worte abzusondern.

Alles andere geht nicht, das kann Plassnik bei ihrem Erfinder, dem ehemaligen Kurzzeit-Diplomaten Wolfgang Schüssel nachfragen, der nur einmal den Fehler begangen hat ehrlich/ungeschützt zu reden und seitdem seinen "Richtige Sau!"-Sager wie eine Beinkugel mit sich rumschleppt.

Sich als vor Wut zitternde und wehleidige Großbürgerin auszustellen mag billige Abstauber-Punkte bei jenen bringen, die vom antitürkischen Medien- und Polit-Terror eh schon gehirngewaschen sind. Diejenigen, die ein Gefühl für die Relation bewahrt haben, berührt all das Gewimmer nur peinlich.

Leben in der manisch-depressiven Erregungs-Blase

Es erinnert ein wenig an den am Wochenende so großen Stolz auf eine fußballerische Niederlage gegen einen an diesem Tag schlagbaren Gegner, die man aufgrund eines selbstbemitleidenden Lebenszustands im Konjunktiv zu einem gefühlten Sieg aufwerten musste. Weil man nur so mit dem grotesken manisch-depressiven Naturell zurechtkommt, weil man nur mit Gekreische und der sofort folgenden Resignation samt aufgespartem Hass den Auswüchsen seines Handelns begegnen kann.
Denn alles andere, eine halbwegs durchdachte kritische Analyse, würde in Arbeit, auch an sich selbst, ausarten.
Und das geht sich nicht aus - Frau Plassnik lebt diese entscheidende Facette des hysterischen Österreichertums gerade exemplarisch vor. Gerade sie, die lange Jahre als große politische Ausnahme gegolten hatte.

Österreich lebt, was sein Verhältnis zur Türkei betrifft, auch nicht in der Wirklichkeitsform. Sondern irgendwo in einer vor Klischees triefenden Wunschvorstellung.

Und natürlich stellt sich da die Frage nach der nicht wahrgenommenen Differenz zwischen Selbst- und Fremdbild. Den anderen ist unser Selbstmitleid nämlich egal. Zurecht. Die dürfen in abstrakten, objektivierbareren Dimensionen denken.

Nur damit das klar ist: Niemand muss über die Verfehlungen in Menschenrechts- und Minderheiten-Politik, niemand muss über die Gefahrenmomente, die im türkischen Islamismus oder Militarismus liegen, hinwegsehen.

Dramatisches Versagen des Selbstreinigungs-Systems

Bloß: umgekehrt (und dieses Journal dient einzig dazu, den anderen Blickwinkel mitzubedenken) ist es wohl deutlich erschreckender, wenn sich eine Nation, die Ausgangspunkt der übelsten Verbrechen der gesamten Menschheits-Geschichte war, wieder in eine zutiefst xenophobe und fremdenfeindliche Richtung entwickelt. Die historischen Wurzeln dafür liegen nämlich noch nicht unter hunderten Jahren von Überwucherung, die zucken noch.
Und nicht jetzt empört sein über "längst Vergangenes!".

Es findet nämlich kein rechter Recke samt ihren 30 % österreichischen Wahl-Unterstützern etwas dabei, die Türkei von heute mit den osmanischen Belagerern des 16. und 17. Jahrhunderts gleichzusetzen, wiewohl das deutlich ein Stückerl weiter weg vom Hier und Jetzt wäre.

Und das aktuelle, deutlich in eine übel postdemokratische Richtung marschierende Österreich ist deutlich näher an der Kippe ins Ungustiöse als die in vielerlei Hinsicht aufstrebende, junge Türkei.

Es mag ein Zufall sein, dass die drei jungen austrotürkischen Fußballspieler Kavlak, Kayhan und Pehlivan den SK Rapid just jetzt, just gleichzeitig und just allesamt in Richtung Türkei verlassen (Yasin tut sich dabei sogar die tiefe Provinz in Antep an, das ist gleich um die Ecke bei Syrien).

Ich glaube nicht an Zufälle, ich glaube vielmehr an das hier drastisch vorgeführte Versagen, ja an den Komplett-Verlust einer natürlichen Selbstreinigung durch Diskurs- und Reflexionsfähigkeit in Politik, Medien und Öffentlichkeit.