Erstellt am: 5. 6. 2011 - 10:02 Uhr
Fußball-Journal '11-51.
Bundesliga, Meisterschaft und der Cup, der ÖFB und das Nationalteam, das europäische Geschäft, der Nachwuchs und die vielen Irrsinnigkeiten im Umfeld: Das Fußball-Journal '11 begleitet nach dem Jahr 2010 auch 2011 wieder ungeschönt und ohne Rücksichtnahme auf Skandalisierungen und Stillhalte-Abkommen, die den heimischen Fußball-Journalismus so mutlos daherkommen lassen.
Heute mit gleich noch einem Fußball-Journal - einer vergleichenden Analyse zum EM-Quali-Spiel England - Schweiz. Um das öffentlich seltsam rezipierte Österreich- Deutschland-Match von gestern am Tag danach, an dem Zeit für mehr als nur Gefühligkeiten war, in die richtige Relation zu rücken.
Das wichtigste nach einem schwierigen Spiel, das hauptsächlich über seine Emotionalität, weniger aber über das, was sich tatsächlich ereignet hat, angekommen ist, wäre ein Vergleichswert, ein erdender.
Und nachdem heute am späten Nachmittag das Wembley-Stadion das Spiel unserer Schweizer Nachbarn gegen Capellos Team angeboten hat - ideale Auflage.
Ist dieses Match vergleichbar?
Nein insofern, als dass kein Spiel dem anderen gleicht.
Aber ja, weil Strukturen und Vorraussetzungen ähnlich sind.
Die Schweiz hat ebenso wie Österreich kaum noch Chancen auf die Euro 12. Ottmar Hitzfeld baut deshalb nach den kürzlich erfolgten Rücktritten seiner Oldies Frei und Streller ein Team für Brasil '14 auf - etwas, was der ÖFB auch tun sollte; leider denkt man dort, falls überhaupt, maximal an die nächsten paar Monate.
Strukturell ist die Ähnlichkeit von Schweizer und österreichischer Liga ohnehin evident, auch die Ausgangs-Position der Nationalverbände in den 80ern war ähnlich, ehe sich die einen für einen Weg des Aufbaus und der Kontinuität und die anderen für den der Hand in den Mund entschieden.
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England ist ebenso wie Deutschland ein großer Gegner, und da die Engländer daheim antreten, ist der Vorsprung, den Deutschland aktuell eindeutig hat, durch den Heimvorteil wieder etwa aufgewogen.
Beide, Deutsch- wie England, bauen ihre (fast) legionärslosen Teams gerade unauffällig um: die einen haben Ballack, Metze, Merte entfernt, bei den anderen scheinen Lampard, Gerrard und Co keine große Zukunft mehr zu haben. Vor allem im Mittelfeld: lauter frische Akteure.
Die Schweiz muss eigentlich gewinnen, um noch eine Chance auf Platz 2 in der Gruppe zu haben - so wie Österreich gestern Abend ja auch.
Hitzfeld hat drei Neulinge in den Kader geholt, alle drei werden ihren Einsatz bekommen. Überhaupt, die Altersstruktur im Schweizer Team: sechs Spieler sind 26/27, der Rest deutlich jünger, zwei Teenager (Shaqiri, Xhaka) sind auch dabei.
Weil er sich nach seinem Spieler-Material richtet, ist Hitzfeld vom bewährten, seit Jahren durchgespielten 4-4-2, das trotz dem Anschein flach zu sein, alles andere als flach interpretiert wird, abgewichen und lässt ein 4-2-3-1 auflaufen. Seine Zentrale (mit Inler und Behrami) interpretiert ihre Positionen deutlich mehr als nur als Sechser, vor allem Inler, der Kapitän, treibt ordentlich nach vorne; und Behrami ist sowieso ein umgeschulter Achter.
Die Offensiv-Reihe (Shaqiri, Xhaka und Barnetta) hat hinter der Spitze (Derdiyok) Position bezogen, und kann sich auf Unterstützung der beiden Außenverteidiger und ihre Vorstöße verlassen.
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Dieses System hat sich logisch aus dem, was die Schweizer Nati sonst (und das seit Jahren) spielt, entwickelt - dementsprechend einfach ist es kommunizier- und anwendbar.
So etwas wie ein dauerüberlobtes Mittelfeld, unzureichend geklärte Außenpositionen oder Mittelfeldspieler, die kreuzen müssen, damit nötige Positionen besetzt werden, hat dieses System nicht nötig. Im übrigen: alle Wechsel erfolgten innerhalb des Systems, das sich jedem Spielstand (Remis, Führung, Anschluß, Ausgleich) ideal anpassen kann, allein durch die jeweilige, hochflexible Interpretation.
Dementsprechend selbstverständlich steigen die Schweizer ins Spiel ein - und nachdem sie merken, dass der Mann, der Lampards Trikot spazierenträgt, wohl ein Doppelgänger sein muss und die anderen auf Augenhöhe daherkommen, mischen sie mit entsprechender Verve mit.
Wo das ÖFB-Team den Deutschen noch riesige Teile des Platzes überließ und ihr Spiel nur auf den Außenpositionen anlegte, waren die Schweizer mittendrin.
Das soll nicht heißen, dass England total daneben war. Im Gegenteil, vieles von dem, was vor allem Wilshire/Walcott/Milner da ins Gras setzten, war aller Ehren wert - und deutlich besser als das, was ihre Pendants im Wiener Prater zustandebrachten.
Aber: Hitzfelds junge Truppe verstand es zu nahezu jedem Zeitpunkt im Spiel zu bleiben und es zu definieren, mitzubestimmen.
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Noch viel wichtiger: die Einstellung.
Beide Schweizer Tore fielen aus Freistößen von Barnetta. Der erste einer dieser "Geht-an-allen-vorbei"-Bälle, der zweite ein frecher aufs kurze Eck.
Die Gegentore fielen aus einem Elfer (gerechtfertigt) und knapp nach Wiederbeginn - also zu einem dieser berühmten psychologisch ungünstigen Zeitpunkte.
Und: in keiner Hinsicht habe ich Geseiere und Pech-Gewinsel gehört. Im Gegenteil: man war sich des Glücks der beiden Standard-Situationen und des Glücks nicht noch einen Elfer bekommen zu haben und des Glücks, dass Darren Bent und Co drei hunderprozentige Sitzer ausgelassen hatten, gewahr.
Man blickt also realistisch und ohne dödelige Konjunktive auf die eigene Leistung und auch die des Gegners.
Derlei Herrlichkeit kennt man in Österreich gar nicht mehr.
Apropos Standard-Situationen: die hatte Hitzfeld die Seinen nicht vollmundig üben lassen - die zu beachten ist eine Selbstverständlichkeit, vor und in jedem Nati-Match.
Wo blieben eigentlich die österreichischen Standards?
Wo die Achtung der der Deutschen? Wo die Zuteilung nach Cornern? Wo bleibt eine halbwegs zeitgemäße Interpretation des gestern zum Putzer degardierten Sechsers?
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Gökhan Inler, der Kapitän, war der klare Chef im Ring, der Lenker und Umschalter - auch weil er seine Ausbildung in Italien erhalten hat, wo man um die Wichtigkeit dieser Position weiß.
In Österreich ahnt man gerade einmal ein bisserl was; und wundert sich übers Hinterhergehinke.
Apropos Inler.
Dass der in der Schweiz geborene Mann mit türkischen Eltern diese Rolle übernehmen kann, im Land des Blocherschen Dauer-Geblökes?
Dass mit Derdiyok noch so einer, mit Senderos ein Halbspanier, mit Djourou ein Halb-Ivoirer, mit Xhaka, Shaqiri und Behrami gebürtige Kosovaren, mit Mehmedi und Dzemaili zwei Halb-Mazedonier und mit Emeghara ein Halb-Nigerianer aufspielten oder dass Benaglio auch den italienischen Pass hätte - das ist da einfach kein Thema, sondern eine Tatsache, mit der man lebt und arbeitet, anstatt sie aus dem Blickfeld der eigenen Verantwortung zu schieben, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als ob nix wäre.
Auch da denkt ein Verband merklich nach und deutlich langfristig, anstatt sich wie der ÖFB darum zu sorgen, ob die Öffentlichkeit den Didi noch lieb hat.
Als ob die Befindlichkeiten eines Einzelnen, und sei er noch so ein Super-Bursch, wichtiger wären als das Fortkommen eines Landesverbandes und der ihm überantworteten jungen Menschen.
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Weil mir gerade Leo Windtner, der ÖFB-Präsident, der wortreich aber inhaltsarm erklären konnte, warum seine Stimme für Sepp Blatter logisch und auch richtig sei, einfällt.
Die halbe U21 der Schweizer, aus der die Xhakas und Shaqiri allesamt kommen, spielt im Ausland, meist in Italien, wo Taktik nicht ist, was man wie in Österreich wie einen versehentlich ausgekommenen Schas entschuldigen muss.
Die wechseln teilweise schon früh, mit 16, 17, 18 dorthin, kriegen eine Ausbildung und, wenn sie den nötigen Biss haben, einen Spielplatz in der Serie B oder C und dann mit spätestens 19 auch einen erstklassigen Verein oder einen Einsatz in Wembley.
So macht man das.
Mit praktischer Arbeit, die in der Realität fußt.
Anstatt sich wirr in einer Hättiwari-Welt des Konjunktivs zurechtzukuscheln und zu glauben, mit schierem Gerede Änderungen zum Besseren herbeizuführen.
Schlimmer kann man die Distanz, die zwischen der Schweiz und Österreich fußballerisch herrscht, nicht manifestieren.