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Pia Reiser

Filmflimmern

6. 6. 2011 - 05:50

Die Waffen einer jungen Frau

Kicking ass with true grit: "Hanna" ist ein exzellentes eigenwilliges Action/Märchen/Drama mit Saoirse Ronan als Killerelfe, die aus der Kälte kam.

„Hanna“ hat mich umgehauen, mir die Schuhe ausgezogen und die Haare aufgestellt. Am Boden liegend, barfuß und einer Frisur aus der Hölle wag ich mich an eine textliche Verbeugung vor einem der eigenständigsten Filme, die ich in letzter Zeit gesehen hab. Am Anfang ist Stille, Eis und Schnee. Die eisblauen Augen Saoirse Ronans beobachten einen Hirsch, die weißen, zarten Hände Ronans werden bald darauf einen Pfeil abschießen, das Tier erlegen und dann in dessen Eingeweiden wühlen. Die Zivilisation kennt Hanna nur aus Erzählungen ihres Vaters (Eric Bana), ein Ex-CIA-Mann, der dafür sorgt, dass die Tochter jede Menge Sprachen spricht und eine umfassende Allgemeinbildung erhält.

Außerdem hat er Hanna trainiert, jederzeit für einen Kampf bereit zu sein. Hanna ist stark, schnell, wendig und kann mit Waffen umgehen. Fähigkeiten, die sie brauchen wird. Sobald sie den Hebel eines Senders umlegt, der dem CIA ihren Aufenthaltsort bekannt gibt, werden andere versuchen, sie umzulegen. Als ihr Vater eines Tages vom Jagen heimkehrt, hat Hanna diesen Hebel umgelegt. Sie ist bereit.

Saorise Ronan in "Hanna"

Sony Pictures

Für diesen Fall haben Papa und Hanna einen Plan, der Rasur, Haarschnitt und Flucht für Papa bereithält und ein Sich-festnehmen-Lassen von Hanna. CIA-Agentin Marissa Wiegler, Cate Blanchett als Fembot mit Dana-Scully-Frisur und Zanhpflege-Obsession, muss aus dem Weg geräumt werden, sie ist für den Tod von Hannas Mutter verantwortlich. The witch is dead soll auf der Postkarte an Papa stehen, wenn Marissa erledigt ist. Ein Zitat aus "The Wizard of Oz" und auf eine ähnlich bizarre Reise wie Dorothy aus Kansas begibt sich nun Hanna aus Finnland.

Cate Blanchett in "Hanna"

Sony

Weil eben selbst jahrelang in Holzhütten ausgetüftelte Pläne Schwachstellen haben, kommt alles anders und Hanna ist plötzlich auf der Flucht. In einem knallorangen Gefängnisoverall stapft sie durch die Wüste und stolpert von der Isolation in die Zivilisation. Trifft dort auf eine der wunderbarsten jungen Schauspielerinnen – Jessica Barden –, die ihr euch merken sollt und automatisch werdet, weil ihre eigenwilligen Zähne in Hollywoodproduktionen so auffallen, wie ein zweiter Kopf –, die so etwas wie ihre Freundin wird. Ein pubertärer Ratgeber für die moderne Welt. Hanna macht Bekanntschaft mit Jessica Bardens Ökofamilie, die mit dem Bus durch die Lande zuckelt und mit denen ich mir einen eigenen Film wünsche. Wo manche Filme noch nicht mal ihre Hauptfiguren mit genügend Leben ausstatten können (ja, "The Tourist", ich schau da zum Beispiel in deine Richtung), hat "Hanna" exzellent ausformulierte Nebenfiguren.

Saoirse Ronan und Jessica barden in "Hanna"

Sony Pictures

Der anfängliche Actionthriller mit Sci-Fi-Spurenelementen, der freudig mit Märchensymbolik spielt, schrickt auch vor Coming-of-Age-Momenten und Road-Movie-Elementen nicht zurück. So eigenwillig und betörend der Genre-Cocktail, so bezaubernd und vielschichtig ist auch seine Hauptfigur Hanna: Ein Teenager-Kraftzwerg, der wie eine Elfe aussieht, erschrickt vor Neonröhren, erfreut sich am Fahrtwind, der ihr am Beifahrersitz eines Autos die Haare verweht und kann schon mal in Windeseile jemandem das Genick brechen. Eine Ambivalenz, die auch Hannas Kostüme wiederspiegeln.

Saoirse Ronan in "Hanna"

Sony

Killertrio

Die exzellente Arbeit von Kostümdesignerin Lucie Bates löst Bilder und bricht unsere Erwartungshaltungen auf und verleiht Joe Wrights „Hanna“ so auch eine Zeitlosigkeit, von der wiederum die Märchenelemente profitieren. Wir kennen den orangen Gefängnisoverall, aber wir haben ihn noch nie an einer so jungen Frau gesehen, zwischen deren Sommersprossen sich Blutspritzer gemischt haben. Man hat schon viele Filmkiller gesehen, bei denen sich Drehbuchautoren und Kostümdesigner vor lauter Spleens und Irrsinn nicht mehr zurückhalten konnten, das Trio, das sich an Hannas Fersen heftet, ist neu. Ein Jogginganzug tragender, blondgefärbter Tom Hollander mit Helmut-Berger-Gedächntismanierismus und zwei junge, dünne Männer in Skinhead-Montur. Dieses Trio hat etwas von der Entrücktheit von Figuren, wie man sie aus Filmen von Jean-Jacques Beineix oder Jean Pierre Jeunet kennt, die das Groteske lieben. Hier unterwandern europäische Kinotraditionen den amerikanischen Actionthriller und wieder ergibt sich dabei etwas Neues.

Genauso wie bei der Geschichte, darf man sich auch bei den Kostümen hier nicht auf Genrekonventionen oder erlernte Konnotationen verlassen; „Hanna“ verunsichert durch seine Inszenierung und Ausstattung und kann einen deshalb überraschen. Man hört die Krusten im eigenen Kopf förmlich wegbrechen und Konnotationen Knoten lösen und neue knüpfen.

Tom Hollander in "Hanna"

Sony

Run, Hanna, run

Selbst die Kamera tritt nicht in die ausgelatschten Pfade momentaner Trends, Actionszenen werden hier nicht im Höllentempo zerhäckselt; in einer langen Sequenz mit wenigen Schnitten kämpft Eric Bana in einer Berliner U-Bahnstation gegen mehrere Männer. Überhaupt scheint die Kamera von Alwin H. Kuchler für jede ihrer Hauptfiguren eine eigene Betrachtungsweise und Bewegungsrhythmen zu haben. Selbst eine Fluchtsequenz wird hier durch Kamerabewegungen, die nicht eine gewohnte Choreographie tanzen, wieder zu etwas, wo das eigene Herz schneller klopft, sich anpasst an die Score-Beatmonster der Chemical Brothers, die herausstechen aus dem Sumpf an einfallslosem Soundtrack-Gedudele. Seit „Lola rennt“ hab ich keine Figur mehr auf der Leinwand laufen gesehen, die wirklich von der Musik angetrieben wurde. Der wummernde Bass boxt einen in den Magen, so dass man sich – wie in einem Guy-Ritchie-Film – in Zeitlupe nach hinten fliegen sieht, eventuell einen Zahn ausspuckend. Die Chemical Brothers nehmen keine Gefangenen, sie wummern einen weg, im besten aller Sinne.

Saoirse Ronan in "Hanna"

Sony

"Hanna" läuft bereits in den österreichischen Kinos.

Joe Wright, der bisher vor allem für seine beiden exzellenten Literaturadaptionen "Atonement" und "Pride and Prejudice" bekannt war, setzt mit "Hanna" seine Vorliebe für Filme, in deren Mittelpunkt junge Frauen stehen, fort und reiht sich damit in eine bemerkenswerte Reihe von Filmen ein. Saoirse Ronans Hanna gesellt sich zu einer Reihe von Figuren, die eine neue Art der „Kindfrau“ beschwören, eine, die mit Lolita gar nichts zu tun hat, eine, die beinah entsexualisiert und unerschrocken der Welt die Stirn bietet, so wie Hailee Steinfeld in „True Grit“, Chloe Moretz in „Kick Ass“ oder auch Jennifer Lawrence in „Winter’s Bone“.

„I missed you heart“, sagt Saorise Ronan zu Beginn und am Ende des Films als Hanna. Nein, ganz sicher nicht, trefferversenktbingo mitten ins Herz, von Anfang bis Ende.