Erstellt am: 4. 6. 2011 - 12:21 Uhr
Go viral!

Evan Roth
Eng und beklemmend können Flugzeugsitze werden, noch bevor man abgehoben hat. Käme man neben Evan Roth zu sitzen, hätte man noch Glück. Der Amerikaner mit aktuellem Wohnsitz Paris vertreibt sich die Flugzeit, indem er etwa Duty-Free-Magazine zerlegt und Studien zur Medienpräsenz vermeintlicher Minderheiten anstellt. Sitzt man vor ihm, wird es unbequem: Sich selbst verschafft Roth gern mehr Raum, indem er dem vor ihm sitzenden Passagier die Rückenlage verwehrt.
Mit minimalen Mitteln ein Maximum erreichen ist Roths Devise. Ein Ziel: Systeme zu untergraben und ihre Praktiken aufzuzeigen. Hacken, nennt Roth das. Der Amerikaner ist Künstler, liebt Graffiti, obwohl er selbst keine macht, sondern Tools dafür entwickelt. Mit Freunden hat er den "Eyewriter" erfunden: ein Hilfsmittel, mit dem sich Menschen ausdrücken können, die an dem sogenannten "Locked-in Syndrom" leiden, deren Körper nahezu oder vollständig gelähmt ist und die einzig ihre Augen bewegen können. Bei der Ars Electronica gewann der "Eyewriter" im Vorjahr eine Goldene Nica. Mittlerweile gibt es eine Anleitung zum Selbstbau, die Materialkosten belaufen sich auf unter einhundert Euro. Hätten medizinische Firmen das Tool entwickelt, würden sie ein zigfaches verlangen, sagt Evan Roth im Gespräch in Graz, das empört ihn wie vieles.
Doch mit Ärger allein kommt man nicht weit. Bei politischen Projekten ist Humor der bessere Weg, findet der 32Jährige. Zornige Projekte mögen Menschen nicht. "There is some dissidence in the projects, there is a political piece in it. But there are also meant to be playful overtones."
Wie diese Art protestierender Kunst aussieht, zeigte Roth bei den "Springsessions" in Graz. Bei der "Conference for art, technology and design" steht Roth vor Programmierern, IndustriedesignerInnen und Werbern. Wie er etliche seiner Projekte im Schnelldurchlauf vorstellt, wird klar: Systemkritik ist Roths künstlerischen Arbeiten inhärent, das Streben nach einer free culture ganz seins. Und Viral Media, das würden Marketingleute zwar gern können, doch das ist viel mehr als eine Form von Marketing.

Radio FM4/Maria Motter
Nicht nur Piano-Cat
Oprah Winfrey hatte sieben Millionen ZuseherInnen pro Sendung. Der New Yorker Charlie Todd erreicht mit seinen Aktionen 1,3 Millionen Sichtungen pro Upload.
Viral Media, das ist Contagious Media: "It's just pieces of the internet that travel through various social networks", definiert Roth den Begriff. "Es ist einfacher, Katzenvideos zu verbreiten, als politische Botschaften unters Volk zu bringen", stellt Roth fest, doch die Ausgangsposition wäre günstig für KünstlerInnen. Die meistgesehenen Videos auf Plattformen wie Youtube sind von Usern hochgeladene Clips.
Das will genützt werden, um Ideen, besonders politische, zu verbreiten. Von Parteipolitik ist hier nicht die Rede, es geht um Politiken, die unseren Alltag bestimmen.
Was viral wird und was nicht, lässt sich schwer vorhersagen. Dennoch: Hat Roth Tipps, wie man die Wahrscheinlichkeit steigern kann?
"It's nothing that's rocket science, but it's things that people forget to do":
- Treat your blog title as poetry: "The few words that you choose to describe your project as a blog title - when you only have five to ten words - that's almost as important as the project you are trying to push out." Online gibt es viele Systeme, die Conent sammeln und nur den Blog-Post-Titel nehmen und anzeigen und der entscheidet darüber, ob man den Link anklickt oder nicht. Darum: Zehn Blogtitel überlegen. Freunde fragen, welchen sie anklicken würden. Danach nochmal diesen Titel gegen zehn neue antreten lassen, bis ein Titel gefunden ist, der wirklich zieht.
- Emails to the editor: "A lot of people just send form emails to websites. Do research on the people you are emailing. Figure out who might like to post your concern and address them personally." Klingt banal, entscheidet jedoch darüber, ob die Angesprochenen auf republish klicken oder nicht.
- "The more times you swing the bat, the more likely you are to hit the homerun." Lieber einhundert Projekte veröffentlichen, als zwei Jahre in eines zu investieren.
Ob etwas so richtig aufgeht und viral wird, wissen Papa und Mama. Eltern sind gute Indikatoren. Die Botschaft greift, wenn sie breit aufgenommen wird und vergnüglich wie Pop daherkommt. Und dann doch woanders endet als ein Piano-Cat-Clip. "The easier things get to make, the more people are going to do it and the better the quality, everything is gonna go up", ist Roth überzeugt, der auch Kunst unterrichtet. In manchen seiner Kurse zählen am Ende des Semesters einzig die Youtube-Klicks, die seine Studierenden mit ihren online gestellten Arbeiten erzielen.
Youtube zu füttern, wo doch deine Emailadresse, all deine Internetrecherchen schon über Google liefen und Youtube auch noch der selben Firma gehöre, sei klarerweise zweischneidig. Dennoch macht man sich Videoplattform lieber zu Nutze - weltweit. "You can plant seeds of freedom by violating the copyright", sagt Roth und zeigt einen Ausschnitt aus einem chinesischen Blockbuster, der nach dreißig Sekunden abbricht. Weiter geht der Clip mit einem Bericht über die Verhaftung des Künstlers Ai WeiWei, die Roth in den Clip geschmuggelt hat. Während eines Aufenhalts in China bemerkte der Vielreisende, dass chinesische Video-Seiten zwar staatlich zensuriert werden - nicht jedoch hinsichtlich des Copyrights.
Happy Hacking
Alltägliche Systeme zu torpedieren und zu korrumpieren ist Roths Leidenschaft. Seine Kunst versteht er viel mehr als Einladung an andere. Ein Musikvideo für Jay-Z gestaltete Roth mit typografischer Illustration, wie er seine Technik nennt: Jay-Z entsteht aus Buchstaben. Der Jay-Z-Clip ist das erste Musikvideo, das mit einem Quellcode endet. Und wenn sich einige Jugendliche nur fragen, was ein Source Code ist, hat er gewonnen.
Aus Lautsprechern an einer Geschäftsfassade tönende Werbung "hackt" er mit einem Besenstiel und einem Polster, den er kurz aus seinem Hotelzimmer zweckentfremdet und vor den Lautsprecher hält. Kritik an Schönheitsidealen und Modemagazinen drückt sich in aufklebbaren Fieberblasen-Stickers aus. Und als Google mit seinen Street Cars in Deutschland unterwegs war, unternahm Roth mit FreundInnen von F.A.T. einen "social hack" und baute sich einen eigenen Street-Car. Passanten fragten sie nach dem Weg, gaben ein technisches Gebrechen mitten in Berlin vor und parkten direkt vor der chinesischen Botschaft, die Kamera auf das Gebäude gerichtet.

Evan Roth
Mind your own business
Evan Roths Rucksack ist leichter geworden. Die 5000 Lumen-Beamer lässt er zuhause. Und auch die gestanzten Metallplatten: Ein Jahr lang nahm Roth bei jedem Flug eine Platte mit, neun Stück mit unterschiedlichen, eingestanzten Inschriften hatte er zur Auswahl. Beim Securitycheck, beim Scannen des Gepäcks, tauchten plötzlich Botschaften auf dem Bildschirm des Sicherheitspersonals auf. "Mind your own business". Roth war viel in Asien und Europa unterwegs. "I never got the reaction I thought I would get", sagt er. Dass er in ein Hinterzimmer gebeten und lange verhört wird, das hätte er angenommen und sich wohl ein klein wenig auch gewünscht. Aber die meisten Reaktionen gab es online, die TSA, die amerikanische Transportation Security Administration, widmete sich der Kunstintervention in einem internen Blogeintrag - mit hunderten Kommentaren.
Evan Roth
Persönlich waren alle freundlich. In Amsterdam sprach man Roth offen auf das Gepäcksstück an und diskutierte, ob das nun Kunst sei. In Bangkok grinste der Sicherheitsmann fortwährend und ließ den Rucksack vier Mal durch das Röntgengerät laufen. Roth hatte auch eine Version in Mandarin: "Sometimes I would intentionally leave my laptop on the conveyor belt, so they would have a reason to rescan it. In China, they wouldn't even make me take the laptop out. They were just like 'Next!'!"
Kunst als Einladung
Als Nächstes dran ist für Roth das Projekt Graffiti Markup Language. Aus seiner Idee hat der zurzeit in Wien lebende Muharrem Yildirm ein Gerät gemacht, das die Bewegungen, die man mit einer Spraydose macht, auf einer Mikrospeicherkarte festhält. Nachmachen kann man das Teil mit etwas Geschick selbst.
Längst verselbständigt hat sich der Gedanke des Graffiti Research Labs, das Roth mitbegründet hat. Mit Dependencen in Wien und seit kurzem in Frankreich ein schönes Beispiel für virale Arbeit.