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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

2. 6. 2011 - 20:10

Journal 2011. Eintrag 109.

Assoziationskette. Vom Qualitäts-Journalismus über den Piefke hin zum fiktional größeren Mut-Potential.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute to be tagged under: Twitter, Qualitäts-Journalismus, Piefke, Selbst/Fremdbild, Piraten, Tiger Moms, fiktionaler Mut, journalistische Übervorsicht.

Das war so: gestern ist mir unter den Neuzugängen bei meinen Twitter-Followern die Nummer 4341 aufgefallen, ein Kollege aus dem Produktionsmanagement hier im ORF-Hörfunk in der Argentinierstraße, also jemand, der sich mit Systemadministration, technischer Entwicklung und den vielen Tools und Tricks auseinandersetzt, die so ein Rundfunk braucht, um zu funken (auch digital). Und, weil ich neugierig bin, hab ich mir kurz seine Tweets angeschaut. Der letzte lautete so: "Neun Thesen zum Qualitätsjournalismus » JakBlog" samt Link dazu.

Eine angenehme Überraschung.
Denn es ist keinesfalls üblich oder gar selbstverständlich, dass sich Produktions/Technik-Experten auch mit journalistischen Themen auseinandersetzen, auch nicht in Medien-Unternehmen, noch weniger in großen. Ganz und gar nicht. Aber gut, da hat die Funkhaus-Technik eine andere Tradition; und auch einen gegenwärtigen Bewusstseinsstatus, der seinesgleichen sucht.

Die in diesem deutschen Blog angeführten Thesen stellen eine Zusammenfassung dessen dar, worauf sich die Branche aktuell einigen kann, von wegen Monopol-Verlust, aber "kein Medien verdrängt ein anderes komplett", steigende Bedeutung von Tempo und Partizipation bis hin zur umstrittenen Möglichkeit von "neuen Geschäftsmodellen".

Hilfe, die Piefke kommen!

Mir ist wieder dieser deutsche Optimismus aufgefallen, der ja nicht wie der der Verleger in Österreich mit der puren Blöd/Geilheit der Kunden spekuliert, sondern an den mündigen Konsumenten glaubt, also aus einer tatsächlichen Haltung heraus operiert, statt sich nur an Entwicklungen anzupassen und dabei das Rückgrat zu verlieren.

Beides ist mir heute wieder eingefallen, als ich mir die gestern aufgenommene aktuelle Ausgabe des Auslandsjournals des ZDF angeschaut habe.

Da gab es anlässlich des am Freitag anstehenden Fußball-Länderspiels eine kluge Geschichte über die Deutschen in Österreich, schöner Titel Hilfe, die Piefkes kommen!.

Die arbeitete nicht nur die existierende Differenz ganz hübsch heraus, die machte auch klar, was - blinder Fleck, olé! - so gern übersehen wird: dass in der Fremde die Zuschreibung alles andere überlagert.
Genauso wie es natürlich jeden Österreicher nervt im Ausland nach Klischees (Mozart, Hitler, Sound of Music, Haider, Alpen, Gemütlichkeit) abgeklopft zu werden, also plötzlich einem Gesamtbild entsprechen zu müssen, das niemand von uns in sich trägt - genauso funktioniert es ja auch andersrum. Wie ärgerlich es für den geneigten Südosteuropäer sein muss, sich hierzulande als Taschendieb oder anders operierender Verbrecher ansehen lassen zu müssen, wie müde es wohl Afrikaner macht hier die Drogendealerei quasi am Aussehen abgelesen zu bekommen, wie nervig der Ostasiate Hundefleischwitze findet - daran denkt umgekehrt ja keiner.

Arg: der Deutsche wird erst im Ausland zum Deutschen!

Und dass sich der gewöhnliche Deutsche erst bei seinem Erstkontakt in Österreich der Tatsache gewahr wird, nicht mehr als Thüringer, Bremer, Kasseler oder Konschtanzer, sondern als Deitscher, als Piefke eben wahrgenommen zu werden, grenzt meinem Verständnis nach durchaus an Idiotie. Weniger schroff gesagt: ein so simples Selbstverständnis muss man erst (anerzogen bekommen) haben.

Da hat es der Österreicher tendenziell leichter: dem ist, im Normalfall, bornierte Trottel gibt's ja überall, eher verständlich, dass er im Ausland definitiv nicht als Ausseer, Osttiroler oder Waldviertler durchgehen wird, sondern den Österreicher geben wird. Insofern ist dieses "Ich bin Deutscher? Echt?"-Gewundere der Nachbarn immer wieder erheiternd. Als ob irgendjemand außerhalb Deutschland sich für die kleinhäuslerische Länder-Politik interessieren würde, die das Land so massiv zustellt. Wozu auch?

Insofern ist der ZDF-Beitrag angewandter Nachhilfe-Unterricht, was das gute alte Nachdenken über zentrale Dinge wie Selbstbild/Fremdbild betrifft.

Die andere Assoziation, die zum Qualitätsjournalismus, die wurde durch einen der anderen Beiträge dieses Magazins hochgekitzelt.

Nein, nicht durch die ein wenig spekulative Piraten in Somalia-Kurzreportage, die hauptsächlich aus "Wir stehen hier mitten im gesetzlosen Gebiet rum, und, verdammt, das ist gefährlich!"-Gesten und eine erstaunlich undifferenzierte Sichtweise auf die Sozial-Ökonomie hinter dem Piratentum hatte.

Wo Fiction Journalismus in jeder Hinsicht abhängt

Es war vielmehr die Geschichte über den Stress den New Yorker Upper-Class-Eltern haben ihre Drei/Vierjährigen in die angesehenen superposh Kindergärten zu bekommen, die sowas wie eine Automatismus-Garantie für eine vorgezeichnete Karriere in sich tragen. Diese neuen Lernstress-Kids sind zuletzt durch Eislaufmütter-Ratgeber wie den der Tiger Mom Amy Chua ja massiv in den Fokus geraten.

Nur: das, was ich im ZDF-Beitrag, der einzelne Eltern und deren Bambini bei Vorgesprächen, Tests und Untersuchungen begleitet hat, um deren Stress, Einsatz und Panik abzubilden, habe ich schon vor einigen Jahren gesehen.
Auch im TV-Kistl.
Aber eben nicht als journalistischen Beitrag mit klarem Qualitäts-Anspruch, sondern als Fiction, als erfundene, aber auf Fakten basierende Geschichte. In einer in New York spielenden Serie, entweder Law & Order oder Criminal Intent, vergessen, ist wie gesagt schon Jahre her. Wohl als das Thema erstmals hochgekocht wurde. Denn gute TV-Fiction ernährt sich von Aktualität.

Und, nein, letztlich gab es keinen Unterschied.
Die eine wie die andere Kamera, egal ob der Regisseur ein Qualitätsjournalist oder ein Knecht der Unterhaltungs-Industrie, sie dirigierte, wollte mir die Ängste und Nöte überforderter und von ihren eigenen gesellschaftlichen Zwängen überwältigte Eltern, knallharte Schul- und Vorschul-Verantwortliche und entzückende, von dem ganzen Irrsinn noch nicht ganz berührte Kinderchens zeigen. Und beide taten das, mit dramaturgischen Kniffen, unter deutlicher Einflussnahme auf das Geschehen, das Inszenieren von Freude, Schmerz und Ängsten.

Die Inszenierung und das aufklärerische Potential

Die Inszenierung, die ich vor Jahren gesehen hatte, enthielt eine Eskalation, zeigte eine Entladung dieser Ängste und dieses Drucks rund um die Wartelisten und Rankings für die kleinen Geldadel-Kids ins Kriminelle (weil sich ohne das Kriminelle dann kein Krimi ausgeht); das war aber der einzige Unterschied.
Vielleicht abgesehen davon, dass die im journalistisch hochstehenden Beitrag fast schamvoll eingestreute moralische Komponente in seinem fiktionalen Pendant deutlicher thematisiert wurde.

Weil man dort, im Bereich der Fiction, nicht die Ängste der journalistischen Macher hat, eventuell zu kritisch mit einem vom Raubtier-Kapitalismus losgetretenen Phänomen umzugehen; weil das die Wirtschaft, die wiederum die Medien direkt und indirekt kontrolliert, nicht so gern sieht.

Warum hier die Fiction-Macher mehr Narrenfreiheit und weniger Gegenwind haben? Warum Krimi-Geschichten (Stichwort: Tatort), also der verfemte U-Bereich manchmal auch in Österreich mehr können als die hehren Qualitätshüter? Warum satirische und kabarettistische Programme mehr aufklärerisches, aufdeckerisches und subversives Potential haben als alle Mainstream-Medien zusammen?

Fragen, die ich in den nächsten, verbesserten Thesen zum Qualitäts-Journalismus - egal wer sie wo für welchen Zweck anfertigt - nicht beantwortet, aber zumindest thematisiert sehen möchte