Erstellt am: 31. 5. 2011 - 21:50 Uhr
Größer als Gaga?
Stell dir vor, Hip Hop ist wieder spannend, nicht in der Nische, nicht in der Verfeinerung sondern big up. Und stell dir vor, Hip Hop ist gar nicht Hip Hop sondern Punk Rock. Und stell dir weiters vor, dass es möglicherweise ganz anders kommen wird und wir in ein goldenes Zeitalter eintreten.
Odd Future live am Primavera Festival 2011 (von Natalie Brunner).
Odd Future: Denn sie wissen, was sie tun: In den USA liebt und fürchtet man die dunklen Ansagen eines jungen Hip Hop Kollektivs aus Los Angeles.
Odd Future live in New York
Post-Industrie
Das, was Odd Future gerade in den USA anstellen, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Die Skater-Clique rund um ihren Art Director, Tyler, The Creator könnte eine entscheidende Rolle in der Transformation der Musikindustrie spielen. Der rasante Aufstieg innerhalb weniger Monate vom tumblr-Blog-Geheimtipp zum heiß diskutierten und von der Industrie aggressiv umworbenen Pop-Act stellt in mancher Hinsicht sogar den Status einer bestimmten Frau Gaga als Erneuerin der Popwelt in den Schatten. Wo Gaga unterm Strich das Modell der Vergangenheit repräsentiert, dem sie noch einmal zu unerwartetem Glanz verholfen hat, scheint dem Prinzip Odd Future die Zukunft zu gehören.
unknown source
Denn Lady Gagas märchenhafte Erfolgsgeschichte fußt ja gerade nicht in der Überwindung überkommener Industriemechanismen, sondern in ihrer selbstbewussten Aneignung, von der Wahl der Produzenten bis zum Label. Die alleinige Weltherrscherin des Pop kann also noch so viele Google-Searches, YouTube-Hits und Facebook-Freunde verzeichnen, ihre Karriere ist eine zutiefst analoge, die völlig konform in den Bahnen eines auf Tonträger-Verkauf basierenden Majorsystems mit umgebenden Verwertungsnetz rast – auch wenn die daraus resultierenden Verkaufszahlen mittlerweile eher marketingstrategischen Wert besitzen (Amazon.com verschleuderte das neue Gaga-Album ‚Born This Way an bestimmten Aktionstagen der Veröffentlichungswoche um 99 Cent pro Stück. So lässt sich natürlich schnell ein saisonaler Rekordwert generieren).
XL-Recordings
Warum jetzt alle Players in den USA, von der New York Times über Pitchfork.com bis zu den Major-Labels das skandalisierte Treiben des blutjungen Hip Hop-Kollektivs verfolgen, und zwar mit Argusaugen, hat gleich mehrere Gründe: Odd Future beherrschen die strategische Provokation wie schon lange kein Act mehr vor ihnen. Sie sind Meister der DIY-Selbstpräsentation und verstehen es, über digitale Kanäle Fanbindungen herzustellen, von denen die Marketingabteilungen der Majors nur träumen können. Die Ausschaltung und demonstrativ zur Schau gestellte Verachtung der Industrie-Mittelsmänner, die Kontrolle über Image und Mythos durch ein anarchisches Kommunikationsspiel mit den Medien, die Veröffentlichung von gleich 12 (Gratis)Alben und Mixtapes innerhalb weniger Monate sowie zahlreicher selbstproduzierter Videos über ihr Blog, das alles führt bei Journalisten wie etwa Peter Rosenberg von der New Yorker Hip Hop Station Hot97 zur Einschätzung, „dass Odd Future das erste, tatsächlich unabhängige Kollektiv in der Hip Hop Geschichte und darüber hinaus sein könnte“. Vor allem vom hyperaktiven und äußerst talentierten Tyler, The Creator erwarten sich viele einen Schlüssel zur Zukunft der Musikindustrie und der Junge ist gerade mal 20 geworden.
Hip Hop, der keiner mehr sein will
Wie es scheint, ist jedoch das neue „game“ nur die halbe Miete bei Odd Future. Hier wird auch am popkulturellen Dominator der letzten 15 bis 20 Jahre gerüttelt, an Hip Hop als Genre, Business und Identitätsstifter. Man ist nicht angetreten, um das angeschlagene System zu reformieren. Mit mittlerweile hohlen Begriffen wie „real“, „deep“ oder „respect“ hält man sich erst gar nicht lange auf. Odd Future feuern nicht nur gehässige Wortsalven auf Gott und die Welt, sondern auch auf Jay-Z und die Welt, was manche Genreliebhaber durchaus als Personalunion betrachten. Underground, Conscious oder „Indie“ Rapper, die für sich Authentizität und Erneuerung in Anspruch nehmen, werden von Odd Future ebenso mit einem kräftigen Fuck You bedacht wie Industrieschwergewichte. Bisher sind die Chaosstifter eher durch die Zusammenarbeit mit Acts wie Lykke Li oder Toro Y Moi aufgefallen. Noch (?) ist man nicht bereit, sich dem Diktat einer der großen Producer- und Beatschmieden oder Sample-Farmen unterzuordnen. Auch der minimalistisch düstere Lo-Fi Sound weist bei näherem Hinhören mehr Gemeinsamkeiten mit der Ästhetik von Chill Wave oder Witchhouse auf, als mit den oft zitierten Wu Tang Clan oder alten Anticon Platten.
Christian Lehner
Hip Hop als Punk Rock
Odd Future bedienen sich zwar der gewalttätigen Sprache des Gangsta Rap mit all seinen homophoben und frauenfreindlichen Implikationen, ja sie leiten dieses Spiel mit der Drastik hinunter in ein bisher unbekanntes Tiefparterre. Doch relativ schnell wird klar, dass hier weder Ironie noch die üblichen Machtfantasien der Treibstoff sind, sondern blanke Wut, teenage rage, Selbsthass und Ohnmachtsfantasien, vor deren Ergüssen man sich selbst immer wieder überrascht zeigt und Reflexionen nachschiebt, die jedoch beim nächsten Reim/der folgenden Phrase schon wieder ausgehebelt werden. Drastik als Farbe für die Leinwand, expressiv hingerotzt. Mit den Ghettoblastern der Vergangenheit hat das nichts mehr gemein.
Rosenberg sieht in Odd Future den Ausdruck einer neuen Generation von jungen schwarzen Mittelklasse-Kids, die im Obama-Amerika aufwachsen, zwar noch immer mit Rassismen zu kämpfen hätten, aber im Wesentlichen doch eine typische suburbane Adoleszenz erfahren. In diesem Sinne machen Odd Future Punk Rock statt Hip Hop. Tatsächlich ist die Musik von einem Nihilismus geprägt, der sich über heftigste Emotionalisierungen Bahn bricht und trotz musikalischer Signifikanten Genregrenzen auslöscht.
Die 10 bis 12 Odd Future Mitglieder haben – was man bisher weiß - einen middle class-Hintergrund und verstehen sich vordergründig als Skater-Clique. Dass sie nun nicht nur über ihre Karriere-Anbahnung und Selbstrepräsentation für Aufmerksamkeit sorgen, sondern den Nerv einer ganzen Generation zu treffen scheinen, hat möglicherweise auch damit zu tun, dass eben jene Generation von der Wirtschaftskrise besondern hart getroffen wurde . Noch nie war die Jugendarbeitslosigkeit höher in den Vereinigten Staaten, selbst bei gut ausgebildeten College-Abgängern. Auch in den USA spricht man mittlerweile von einer verlorenen Generation, die noch dazu mit einer großen Schuldenlast (hohe Studiengebühren) in die Zukunft entlassen wird.
XL-Recordings
Lost Generation
Mit Lyrics wie "Kill People, Burn Shit, Fuck School" (Radical/Goblin) werden Odd Future wohl keine Poesie-Wettbewerbe gewinnen. Das jugendliche Wutpotential und den Frust schöpfen sie jedoch ab wie derzeit kein anderer Act in den USA.
Das alles ist selbstredend kritisch zu verfolgen und sorgt dementsprechend für hitzige Diskussionen in den USA. Seltsamerweise ist davon im deutschsprachigen Popjournalismus kaum etwas zu bemerken. Dort werden Odd Future staunend belächelt, als Pseudo-Gangsta-Rapper oder Teenager-Deppen vorgeführt, in flotten Feuilleton-Halbseitern als Wiedergänger der „Furcht vorm schwarzen Mann“ abgehandelt - was nicht nur denkfaul sondern auch rassistisch ist - und von jenem Magazin, das für sich die Diskurshoheit in Anspruch nimmt, einfach an einen amerikanischen Journalisten outgesourced (eine Unsitte, die sich immer größere Beliebtheit erfreut bei deutschen Magazinen). Das sind getextete Bankrotterklärungen , die sich häufig auch noch über so sinnlose Fragen wie Kommerz/Antikommerz oder Authentizität von Lyrics Scheingedanken machen und allesamt weit hinter die Diskursergebnisse der 90er Jahre zurückfallen.
Man kann von Odd Future halten was man will, sie lieben/hassen, für dumm oder besonders clever halten und der Affentanz um ihre „killer app“ für die Musikindustrie erinnert auch ein wenig an das Gebläse vom Start-Up mit Millionen Usern minus Revenue-Modell. Vorbeikommen wird man aber an Odd Future in diesem Jahr auf keinen Fall. Ignorieren ist also verboten, auch wenn es dieser Tage so leicht fällt wie nie zuvor und Odd Future sich durch einige unbedachte Moves auch schnell wieder ins Abseits schießen könnten.