Erstellt am: 5. 6. 2011 - 11:20 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts
Zuallererst habe ich keine gute Einleitung für diesen Aufsatz erdacht, deshalb beginne ich, meiner Abneigung gegen halbe Sachen Folge leistend, mit dem schrecklichst vorstellbaren Einstieg:
Die letzen drei Wochen verbrachte ich in New York, der größten Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika, in jener acht Millionen Einwohner zählenden und an der Ostküste der USA gelegenen Weltmetropole, von der es heißt, sie würde niemals schlafen, dem sogenannten “Big Apple”, von dem Frank Sinatra einst sang: “New York, New York”.
Dort habe ich die Tage freilich nicht untätig zugebracht. Aufzuzählen, was ich die vergangenen Wochen in New York („New York, New York“) erlebt habe, würde aber den Rahmen dieses Berichtes sprengen. Aus Zeit- und folgerichtig auch Kostengründen kann ich an dieser Stelle also nur ausführen, was ich alles nicht gemacht habe.
marc carnal
■ Nicht nachgefragt habe ich beim wie immer etwas gephotoshopt wirkenden Flugzeug-Personal, um meine beiden Freestyle-Theorien bestätigen zu lassen. Schließlich ist es zumeist schöner, etwas zu vermuten und sich am Vermuteten zu erfreuen, als durch sture Recherche und aufdringliches Nachfragen den Zauber der Spekulation zu zerstören.
Erstens vermutete ich nicht zum ersten Mal, dass Piloten Pseudonyme ersinnen. Der Kapitän des Rückflugs hieß Manfred Stress. Natürlich kann man so heißen, aber die Piloten haben immer entweder verdächtig sprechende Namen wie eben Stress oder auffällig durchschnittliche wie Ernst Baumann oder Hans Kramer.
Womöglich sind die meist souveränen Flugchauffeure auch gut beraten, nicht ihre tatsächlichen Namen durch die Bordmikrofone kundzutun. Im Falle einer unsanften Landung oder einer unbequemen Turbulenz gäbe es mitunter Fluggäste, die wütend in ihre glühenden Erfrischungstücher beißen würden, um sich zu sagen: „Ich werden diesen Manfred Stress finden und ihm sein übriges diesseitiges Gastspiel slightly uneasy gestalten.“ Doch die Suche des sich Echauffierenden ist in keinem Telefonbuch des Erdenrunds erfolgreich. Schließlich heißt der Pilot Ernst Baumann oder sonst irgendwie anders.
Zweitens fand ich bemerkenswert, dass auf der über jedem Sitz zeitweise eingeblendeten Landkarte, auf welcher die derzeitige Position des Flugzeugs mal detailierter, mal in großzügiger Zoomstufe ersichtlich war, neben Metropolen wie Paris, London oder Berlin auch Städte eingezeichnet waren, von denen wohl nicht nur ich nie zuvor gehört hatte. Neben der kanadischen Provinz Neubraunschweig oder der österreichischen namens Burgenland wurden selbst umfassend Gebildete und weitgereiste Kosmopoliten nicht nur vor geographische, sondern auch orthographische Rätsel gestellt. Es scheint bei der bewussten Fluglinie eine eigene Grotesk-Orte-Redaktion angestellt zu sein, die das digitalisierte Netz ihrer Flotte mit lustig klingenden Kleinstädten würzt.
Der primäre Zweck mag die Unterhaltung und Irritation der Kundschaft sein. Vielleicht will man aber auch jenen, für die Jetlag und Thrombosestrumpf alltäglich sind, demonstrieren, dass auch sie noch nicht die ganze Welt kennen, dass es neben Weltstädten auch entdeckenswerte, kleine Juwelen rings um den Globus gibt und dass sich daher lebenslänglich hinreichend Gründe finden, viele viele lange und teure Flüge zu buchen, um all die obskuren Dörfer Schottlands, Küsten Kanadas oder Bundesländer Österreichs zu besuchen.
marc carnal
■ Nicht besichtigt habe ich die Freiheitsstatue. Bemerkenswert war, dass es niemand in einer immerhin vierköpfigen Reisegruppe wagte, wenigstens die Möglichkeit anzusprechen, im Rahmen eines immerhin dreiwöchigen Aufenthalts auch nur in die Nähe des bekannten Bauwerks zu fahren, geschweige denn es zu betreten.
Obwohl man bei einem vorübergehenden Aufenthalt in fernen Ländern und Städten natürlich trotz aller Bemühungen um alltagsnahe Erfahrungen, kulturelle, kulinarische und ideologische Flexibilität oder gar authentischer Lebensweise immer Tourist bleibt, kann man durch das Ignorieren DES Wahrzeichens oder DER Sehenswürdigkeit zumindest das Gewissen oberflächlich reinwaschen.
marc carnal
■ Nicht glauben konnte ich, was mir meine Reisebegleitung berichtete. Sie erzählte mir, dass sie einmal ein Konzert von Jon Bon Jovi verpasst hätte, weil sie im Stau gestanden war.
Das ist an sich noch nicht so sensationell.
Ungleich wirkungsvoller wird dieses Anekdötchen mit dem Hinweis darauf, dass mir zwei Wochen zuvor eine Frau, welcher der Mitreisenden zuvor nie begegnet ist, erzählte, dass sie einmal ein Konzert von Jon Bon Jovi verpasst hätte, weil sie im Stau gestanden war.
All jenen mit Schwierigkeiten beim sinnerfassenden Lesen möchte ich mit einer Zusammenfassung dienen:
Ich kenne unabhängig voneinander zwei Frauen, die einmal ein Konzert von Jon Bon Jovi verpasst haben, weil sie im Stau gestanden waren!
Weil ich mit dieses Tatsache noch Jahrzehnte hausieren gehen werde – gesetzt den Fall freilich, dass nicht noch eine dritte Dame vorstellig wird, die eine Darbietung des beliebten Rocksängers im Stau stehend verpasst hat – möchte ich auch gleich noch eine Coverversion dieser meiner neuen Lieblings-Gesprächsrunden-Begeisterungs-Geheimwaffe verfassen:
Angesichts dieses enormen Zufalls des wirklich kurzen Intervalls von zwei Wochen berichteten mir einmal zwei einander unbekannte Frauen, dass sie jeweils zwei verschiedene Darbietungen des erfolgreichen Stadionrockers Jon Bon Jovi unglücklicherweise versäumt hatten, weil ihnen aufgrund des unerwartet starken Verkehrsaufkommens bei der Anreise zum Auftritt des heißblütigen Troubadours ein rechtzeitiges Eintreffen nicht möglich war.
In den nächsten Wochen plane ich, diese Geschichte zusätzlich in Lied-, Sonett- und Buch-Form zu verarbeiten. Namhafte Regisseure werden Post von mir bekommen, um ein reges Wett-Bieten um die Filmrechte anzuregen. Erste Gespräche mit dem Burgtheater für die Bühnenadaption haben bereits begonnen.
Doch zuvor muss ich noch erzählen, was ich in New York nicht gemacht habe.
marc carnal
■ Nicht gestört hat mich die allgemein immer wieder getadelte oberflächliche Freundlichkeit der meisten Amerikaner. Es ist sehr angenehm, im Alltag zuvorkommend begrüßt, bedient oder geholfen zu werden.
Der grammatikalische Fauxpas des letzen Satzes erlaubt mir, von einer ehemaligen Arbeitskollegin zu berichten, die sich zwei Jahre am Telefon mit „Wie kann ich Sie helfen?“ meldete und die von Dutzenden Arbeitskollegen nicht ein einziges Mal auf diesen Feldbusch-Fehler hingewiesen wurde.
Die Arglist des Wieners!
Schon am ersten Tag unseres Aufenthalts erteilte mir eine leicht abgewirtschaftete Passantin im Rahmen einer Wegbeschreibung mehrere hilfreiche, geschickt eingeflochtene Lektionen in Alltagssprache, um mich danach mit ihren Goldzähnen anzulächeln, als wollte sie sagen: "Komm zu Mama!"
In den exotischsten aller Herren, Damen und Zwitter Länder trifft man Rucksacktouristen aus aller Herren, Damen und Zwitter Länder und muss verlässlich mit ihnen erörtern, woher man komme, was man bereits gesehen habe und ob einem die bisherige Reise zusage. In Amerika muss man diesen Themenkatalog gar mit jedem zweiten Einheimischen durchackern, ergänzt um die Zusatzfrage, welche Sprache man in Österreich spreche. Dieses thematische Bonus-Level kann man allerdings billigend in Kauf nehmen, wenn dagegen fast ausnahmslos alle im Service-Bereich beschäftigen Menschen hilfsbereit, umsorgend und entgegenkommend sind.
Freundlichkeit bedingt manchmal Oberflächlichkeit und Schauspiel, gestaltet den Alltag aber angenehmer.
Zurück zu Hause: Meine Frage an einen Wiener Flughafenbediensteten nach der Ausgabe des schweren Gepäcks beantwortete dieser einfach gar nicht und schüttelte den Kopf, weil ich in der Nähe stand und das Schild auch selbst hätte sehen können.
marc carnal
■ Nicht geraucht habe ich auch.
Das Tagebuch zum Jahr des Verzichts wird von nun an wieder regelmäßig in gewohnter und bewährter Form fortgeführt.