Erstellt am: 31. 5. 2011 - 15:03 Uhr
Wahrnehmungen verweben
Die Wahrnehmung der Realität mit einer Wahrnehmung über Dinge zu verweben, die wir bisher nur vom Internet gewohnt sind: Das ist eine der Aufgaben, die sich Alois Ferscha stellt. Klingt poetisch, und ist wissenschaftliche Spitzenforschung im Bereich des "Pervasive Computing": Technologie durchdringt Gebrauchsgegenstände des Alltags.
LateinerInnen wissen: Pervadere (lat.) heißt durchdringen - die Zukunft der Computertechnik könnte den Alltag durchdringen.
Brillen beispielsweise: mit integriertem Display und technischen Sensoren ausgestattet, bieten die "Spectacles" situationsbezogene Dienste und Situationserkennung. Für den Prototypen der "Spectacles" erhielten Alois Ferscha und sein Team am Institut für Pervasive Computing in Linz den Innovationspreis des Staatspreises für Multimedia und e-Business 2011.
Als ob diese geglückte Entwicklung des "Wearable Computing" nicht spannend genug wäre - fantastisch ist der Forschungsansatz. "Wir beziehen unsere Motivation aus einer Kritik an Computertechnologie herkömmlichen Zuschnitts", sagt der Informatiker, Universitätsprofessor und Leiter des Instituts für Pervasive Computing zu Beginn des Interviews. Freitagmittag strömen Studierende vom Campus der Johannes-Kepler-Universtität in Linz Richtung Wochenende. Auf Tour sind auch die "Spectacles", doch Alois Ferscha ist da. Im Physikgebäude verteilt sich sein Team von einer Kaffeepause zurück an die Arbeitsplätze, während sich das Unigelände leert. Softwareingenieure, InformatikerInnen, auch Elektrotechniker und ein Designer gehören zum fünfzehnköpfigen Team.
Brillen als High-Performance-Computer
In fünf Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit ist ihnen der weltweit erste ernsthafte wissenschaftliche Versuch gelungen, ein Wearable Display in eine gewöhnliche Brillenfassung einzupassen. Beim Mountainbiken zum Beispiel sieht das so aus:

Institut für Pervasive Computing
Zum einen blickt man in die Realität, wie wir sie visuell wahrnehmen. Die zweite Sicht ist eine hinzugenommene Information, angezeigt auf einem Minidisplay auf der Innenseite der Brille, und geliefert mit drahtlosen Kommunikationstechnologien.
Die intelligenten "Spectacles" sind ausgestattet mit einer Vielzahl technischer Komponenten: Hochperformance-Prozessor, entsprechende Sensorik und drahtlose Kommunikation, bildgebende Sensoren wie Kameras und Mikrophone.
Die Kamera, integriert in der Brillenfassung, blickt in dieselbe Richtung wie die/der Brillenträger/in. Dazu kommt eine Positionierungs- und Orientierungseinheit, quasi ein GPS-Sensor und ein digitaler Kompass. Die Brille ist somit überall verortbar. Und das Bild, das die Kamera liefert, kann zum Standort, der Geographie und zur aktuellen Situation in Bezug gesetzt werden.

Institut für Pervasive Computing
Je nach Anwendungsbedarf können die Hardware-Komponenten kombiniert und die Software konfiguriert werden. Für die Feuerwehr hat das Team eine Applikation entwickelt. In Kooperation mit einem oberösterreichischen Brillenhersteller die "Spectacles" als Sportbrille realisiert, inklusive Herzfrequenz- und Stresssensor. Als Tourist bekommt man beim Besuch einer Stadt mit den "Spectacles" nicht einzig das Gebäude zu sehen, vor dem man physikalisch steht, sondern Informationen dazu aus dem Internet. Als "diatory assistent" im Supermarkt lösen die "Spectacles" via Laserscanner, der in der Kamera in der Brillle integriert ist, jeden Lebensmitttel-Produktcode in Nährwertangaben auf dem Wearable Display auf. Ein weiteres und weites Anwendungsgebiet liegt in der Chirurgie.
Eine der größten Herausforderungen bei der Entwicklung war die Optik: Das menschliche Auge kann Objekte, die kürzer als 2,5 Zentimeter von der Netzhaut entfernt sind, nicht fokussieren. Der optische Weg musste verlängert werden. Einzig dabei halfen KollegInnen eines Forschungslabors an der University of Central Florida mit ihrem Know-How aus. Sämtliche Hardware und Software entstanden am Institut für Pervasive Computing.
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit
Den Blick durch die Brille und auf das "Wearable Display" lerne der Mensch intuitiv, sagt Ferscha. Sonderlich konzentrieren müsse man sich beim ersten Tragen nicht. Nicht zuletzt sind die "Spectacles" eine Brille und die kann man abnehmen. "Und nicht etwas, das einen kontinuierlich und fußfesselähnlich bindet, an das Internet oder sonstige Verbindungen", sagt Alois Ferscha. Und trifft damit den Kern seiner Arbeit: Ihm geht es um eine adäquate Verwendung von Technologie.
"Ich denke, dass die Aufnahmefähigkeit - das Sensorische betreffend, aber auch die Aufnahmebereitschaft, die der Intellekt des Menschen vorgibt - in Beziehung gebracht werden muss mit der Leistungsfähigkeit von Systemen", sagt Ferscha. Die Informatik hat die Leistungen ihrer Systeme hochgeschraubt. Ferscha interessiert längst die Ökonomie der Aufmerksamkeit.

Radio FM4
Alois Ferscha ist überzeugt, dass in manchen Bereichen der Weg der Eingabe von Information über eine Tastatur in Systeme nicht geeignet ist oder gar nicht in Frage kommt. "Dort, wo Sie keine freien Hände haben. Wo Gefahr im Verzug ist." Systeme müssen sich nicht immer über einen Bildschirm an den Menschen zurückartikulieren. Der Favorisierung des Auges hält Ferscha Produktentwicklungen entgegen. Es genügt, wenn es tönt, summt oder ein Vibrieren zu spüren ist.
Ein Gurt als ein vibrotaktiles Informationssystem, das einem per Vibration die Richtung weist, entwickelte das Team in einem EU-Projekt. Projektpartner stellten Daten zu 9/11 und dem 7/7-Bombing in London zur Verfügung. "Es ist finster oder verraucht, durch eine so große Geräuschkulisse hört man nicht mehr auf Anweisungen, die über Lautsprecher kommen, oder ist so in Panik und hat damit eine eingeschänkte Sinneswahrnehmung, dass hier Richtungsanweisung zum nächsten rettenden Ausgang über vibrotaktile Stimulation gegeben wird." Im Ernstfall bräuchte nicht jede Person diesen Gürtel, das Sozialverhalten spielt der Entwicklung zu.
Zu futuristisch?
Dennoch: Ihre Arbeiten erzeugen wahrscheinlich vorerst nur ein Lächeln in der breiten Öffentlichkeit, befürchtet Ferscha.
Neugierig war der Projekt X-Hörer, wie es sich für einen Hauptprojektleiter gehört, schon als Kind. Ob sich ein alter ausrangierter Eiskasten von innen öffnen ließe, wollte er als kleiner Bub wissen. Es geht nicht. Ein Onkel bemerkte sein Verschwinden noch rechtzeitig.
"Noch zu future" sei Wearable Computing. Die Zeit sei einfach nicht reif für solche Technologie, in einem Zeitalter, in dem die Menschen lernen, ein Mobiltelefon oder ein Pad zu bedienen und sich dafür zu begeistern.
Umso mehr freut den Wissenschafter der Staatspreis. Entwicklungen gehen nun mal langsam, sagt Ferscha und verweist auf den PC: "Die Entwicklung hat jetzt dreißig Jahre gewährt, am 11. August 1984 ist er von einem großen Dreibuchstaben-Hersteller der Welt vorgestellt worden. Heute ist er noch immer der Dreibuchstaben-PC, mit Bildschirm und Tastatur. Und er wird es noch weitere dreißig Jahre bleiben. Der neueste Trend sind Mobiltelefone - eine Miniaturisierung dessen, was wir ohnehin schon als PC kennen". Einzig versehen mit dem zusätzlichen Effekt, dass sie leichter handzuhaben und mitzunehmen sind. "Angreifen und mitnehmen ist etwas zutiefst Menschliches", sagt Alois Ferscha.