Erstellt am: 31. 5. 2011 - 10:32 Uhr
Schwarz und voller Vögel
"One flew east and one flew west,
And one flew over the cuckoo's nest"
(Englischer Kinderreim)
Johannes Weinberger steht vor dem Spiegel. Sein Spiegelbild zeigt ihm eine grinsende Fratze. Sie fletscht die Zähne und hält ein ausgefahrenes Springmesser an die Scheibe. Mit seiner freien Hand zieht sich Johannes Weinberger den Zeigefinger waagrecht über den eigenen Kehlkopf entlang. Dann dreht sich das Spiegelbild um, zieht seine nackten, haarigen Hinterbacken mit beiden Händen auseinander und ein Schwall dunkelbrauner und zähflüssiger Kot plätschert gegen die Fensterscheibe.
Johannes Weinberger befindet sich in der Psychiatrie.
Luftschacht Verlag
Der Patient Johannes Weinberger
Luftschacht Verlag
Wir sind in den beengten Räumen einer Borderline-Station. Mehr ist vorerst nicht auszumachen, denn die erzählte Welt in diesem Roman ist genauso wenig greifbar, wie ihr Protagonist. Vielmehr ist die Handlung durch Albträume und Wahnvorstellungen strukturiert. Vorerst sind es die kleinen Details, die uns zu schaffen machen: Schmetterlinge mit löchrigen Flügeln, tote Mücken im Abfluss, Ameisen, die Nervenstränge anbeißen und Augen aus dem Gesicht reißen, das Brodeln der Klospülung, Kaffeemaschinen, die wie Erbrochenes sprudeln, einarmige Babies in vermoderten Kinderwägen und summende Bienen, die den Körper vollständig bedecken. Immer wieder stechen uns solche Beobachtungen unreflektiert ins Auge, das Trauma der Details schnürt die Luft ab.
Dann der Blick zu Johannes Weinberger, dem psychisch Kranken, dem Patienten der Station, dessen Tage wie ein schlechter Trip strukturiert sind. In den erstickten Passagen immer wieder ein Tropfen an Information: Weinbergers Lebensgefährtin Anna verlässt ihn, als dieser in die Psychiatrie eingeliefert wird - er solle sich doch melden, wenn "es ihm besser geht". Mit Hass erfüllte Briefe an die Ex, die Weinberger nie abschickt, weisen darauf hin. Außerdem gibt es in der Außenwelt einen Sohn, an dem Weinberger hängt und an den er in seiner Zelle denkt.
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Gespräche mit Ärzten und Pflegern haben kaum therapeutische Wirkung, vielmehr sind sie lachhaft, da alle aneinander vorbei reden. In diesem Umfeld ist es selbst für den Leser schwierig, den Überblick zu bewahren, zu vernebelt wird einem der Blick durch die immer wieder beschriebenen Wahnvorstellungen. Hier ist kein Platz zum Atmen, für niemanden. Weinberger schildert sich selbst als gebrochenes Individuum, geradezu bettelnd um Hilfe und Medikamente, verfolgt vom eigenen Gehirn. Weinberger muss einiges ertragen: die Mutter als Hexe, die getötet werden muss, die Selbstgeißelung mit einer Reitgerte, die größte Bestie ist man immer noch selbst. Das kann kein gesundes Ende nehmen.
Doch dann geschieht etwas, das für niemanden - weder für Patient noch Leser - gut sein kann. Johannes Weinberger wird in der Hälfte des Romans und ohne signifikante Verbesserung aus der Klinik entlassen.
Der Autor Johannes Weinberger
Sogenannte "Klinik-Prosa" oder "Psychiatrie-Romane" zeugen im Normalfall von einer wohltuenden Grenze zwischen Fiktion und Realität. Selbst bekannte Werke des Genres, wie Ken Keseys "One Flew Over The Cuckoo’s Nest", lassen immer noch diese gewisse Distanz, die den Leser vom Patienten trennt. In "Schwarz und voller Vögel" ist das anders, Keseys Roman wirkt dagegen wie ein Streichelzoo. Bei Weinberger gibt es nicht mal eine Trennung zwischen Autor und Patient, alles erinnert ein wenig an die bildhaften Abgründe in Filmen wie "Jacob's Ladder".
Es ist ein gewagtes Experiment, sich selbst in sein Werk zu schreiben, aber Johannes Weinberger ist für Experimente bekannt, spätestens seit seinen Werken "Ich zähle zornig meine Schritte" und "Mara/Mara". Die Verwunderung über Weinbergers albtraumhafte Sprachfetzen weicht der sehr persönlichen Krankenakte des Ich-Erzählers, der zumindest zum Teil mit dem Autor ident ist. Der Autor Weinberger wird selbst zweimal als Patient wegen Depressionen in der Psychiatrie behandelt, sein Krankenheitsbild definiert er selbst als größere Persönlichkeitsstörung. "Schwarz und voller Vögel" ist der offene Umgang mit Borderline, und das ist notwendig, denn die Krankheit ist längst zum Modewort avanciert und daher mit unzähligen Klischees behaftet.
Weinberger bedient sich gekonnt der surrealistischen Schreibweise, um seine eigene Biografie in der des Patienten zu verschleiern: Albtraumhafte Bilder und stetige Verfremdungen der Wahrnehmung liefern ein Schreckensszenario, in dem nur Weinberger selbst weiß, was wahr und was erfunden ist.
Weitere Leseempfehlungen:
Weinbergers Sichtweisen sind allerdings nicht nur schmerzhaft und gewaltsam, sie sind stellenweise auch durchaus amüsant zu lesen. Dabei ist auch zu spüren, wie sich der Patient von seiner Krankheit emanzipiert. Ein großes Buch, weil es sich mit traumhafter Sprache dem Trauma annähert und den Leser ins Hirn des Patienten einsperrt. Ein Buch, das einem dadurch aber auch die Luft abschnürt.