Erstellt am: 29. 5. 2011 - 21:15 Uhr
We don't want to go to sleep either
Text: Conny Lee und Nina Hochrainer
Das Schlimmste zuerst: Dass das Wetter am Seewiesenfest 2011 laut Vorhersage zu wünschen übrig lassen würde, darauf konnte man sich ja einstellen. Nicht vorhersehbar war allerdings die kleine Ölkatastrophe, die sich am Vorabend des Festivals im oberösterreichischen Kleinreifling zutragen sollte. Ein Bus, von dem aus am Gelände das Champions League Finale übertragen werden sollte, hatte Öl verloren, was sowohl die Umwelt als auch die Veranstaltung gefährdete. Dass das Festival schließlich doch stattfinden konnte, ist der örtlichen Feuerwehr zu verdanken, die die halbe Nacht Erdreich abtrug, um das Unglück einzudämmen. Um eine Grünfläche und ein Public Viewing ärmer, dafür regenreich und um ein Schlammfeld erweitert, konnte das Seewiesenfest seine Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum letztlich doch beginnen.

Nina Hochrainer

Nina Hochrainer

subtext.at, Andreas Kepplinger
Die letzten Sorgen um die in Mitleidenschaft gezogene Wiese werden am Tag des Festivals dann aber spätestens von der MusikarbeiterInnenkapelle weggeblasen. Kaum jemand, der sich bei den Blasmusik-Versionen von Eurotrash-Hits wie „I like to move it“ oder „No Limit“ nicht zum Schmunzeln und Mitstampfen animiert fühlt. Wie ein zu spät gekommener Ehrengast erscheint schließlich auch die Sonne während des Sets von Parkwächter Harlekin, der mit seinen Texten den gegenüber im Mini-Zelt stattfindenden Poetry Slam komplementiert.
Langsam füllt sich das Gelände – mit Besuchern und mit Neugier auf das anstehende Set von Esben and the Witch. Die mit der furchteinflößenden Genrebezeichnung Nightmare-Pop bedachten britischen Newcomer bewegen sich stimmungsmäßig diametral zum restlichen Line-Up. Mit verzerrten Gitarrensoundflächen, einer wütend bedienten Floortom, gnadenlos pochenden Beats von der Drummachine und düsteren Loopeskapaden versetzt das Trio die Zuhörer in einen Zustand zwischen Grusel und Ehrfurcht und macht das Seewiesenfest temporär zum akustischen Blair Witch Project. Eine eifrige Nebelmaschine tut ihr Übriges, einzig die Sonne hält sich nicht ans Drehbuch und entscheidet sich während des Sets erneut unverfroren zum Scheinen. Beeindruckte Mienen auch bei vorher skeptischen Besuchern.

Conny Lee
Der mystischen Versponnenheit setzen vier furchtlose Oberösterreicher knackigen Nervous-Rock entgegen. Im Publikum wird bei der Darbietung von Bilderbuch jedoch noch geschunkelt, wo schon gesprungen werden müsste. Ein Fehler, denn vom Schunkeln ist noch niemandem warm geworden und die Sonne hat mittlerweile auch schon wieder Dienstschluss. Als die Anfangszwanziger dann aber „was Altes“ spielen, wird präventiv gejubelt. Und als in der ersten Reihe plötzlich Sonnenbrillen getragen werden, ist der Rock’n’Roll gerettet.
Ra Ra Riot – die bestimmt wohlerzogensten Rockstars in der Geschichte des Seewiesenfests präsentieren anschließend perfekt einstudierten Baroque-Pop. Star dieses Sets ist ohne Zweifel die Mini-String-Section der New Yorker Band: Cello und Violine werden so herrlich unklassisch in die Songs eingearbeitet, dass man sofort selbst ein Streichinstrument erlernen möchte. Und selbst wenn man geneigt ist, der Gruppe ob ihres "preppy chic"-Erscheinungsbildes das Attribut Schnösel-Rock umzuhängen, werden sie ihrem Bandnamen an diesem Abend durchwegs gerecht. Nice and nicely done.

subtext.at, Andreas Kepplinger
Mittlerweile in der Schlammzone draußen vor dem Zelt lüften Love & Fist das Geheimnis um ihre angekündigte Überraschungseinlage "Austrian Dance Shock": Vier halbnackte Männer in rosa Strumphosen, Tutu und Brautschleiern, versteckt unter einer riesigen Geburtstagstorte sorgen mit ihrer eigenwilligen Interpretation der Schwanensee-Choreographie für den komödiantischen Knalleffekt des Abends.

Conny Lee
Method Acting dann bei Kreisky: Mit tiefernster Miene dreht sich Frontmann Franz Adrian Wenzl auf seinem Keyboardstuhl und vermittelt glaubhaft Wut und Empörung über die globale Gesamtsituation. Getreu den Regeln der klassischen Dramaturgie kreieren Kreisky bei ihrem Set gnadenlose Intensität: Auf Spannung folgt kurze Entspannung, nur um danach noch mehr Druck zu geben. Das Zelt passt sich den Gegebenheiten an und dehnt sich kurzfristig zu Stadiongröße aus. Ein Spektakel zur Prime Time, neben dem auch das Champions League Finale verblasst. Und kaum scheint der Höhepunkt der Inszenierung erreicht, zerren Kreisky noch Kannibalen hervor und versetzen das Auditorium in Nah-Hysteriezustände. Scheiße Schauspieler.

Andreas Kepplinger

Andreas Kepplinger
Der abschließende Auftritt von FM Belfast lässt sich nur schwer in Worte fassen. "We like big shows on small stages" hatten die Electro-Pop-Darlings aus Island wenige Stunden zuvor mit verschlafenen Mienen erklärt. Auf der Bühne ist aber von Müdigkeit keine Spur mehr. "I don't want to go to sleep either" singen FM Belfast nicht zufällig in ihrer neuesten Partyhymne und nehmen uns mit auf All-inclusive-Kurzurlaub in ein schräges, buntes, lautes Pop-Paradies: Synth-Feuerwerke, Spaß-Gesänge, Aerobicübungen und Tanz-Choreographien mit dem gesamten Publikum, Dauerlächeln, Dauerhüpfen, Dauerkreischen, sich in die Arme fallen, in die Hocke gehen und wieder hochspringen, sich die Hosen ausziehen, auf der Stelle joggen, plötzlich von links die Ballerinos, die die Bühne stürmen, befreiende Sinnfreiheit, Schwindelgefühl und Endorphin-Overload, für einige Momente ganz nahe am Weltfrieden – kurzum, ein kollektiver Mindtrip an den sich kurz darauf niemand mehr so genau erinnern kann. Nur ein Gedanke bleibt letztlich hängen: Wenn wir das nächste Mal 20 werden, möchten wir auch so feiern. Happy Birthday, Seewiesenfest!
- Mehr Fotos vom Seewiesenfest gibt's auf subtext.at

Andreas Kepplinger

subtext.at, Andreas Kepplinger