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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

29. 5. 2011 - 19:11

Primavera 4: The Future is ODD

Kill people, burn shit, fuck school…

Odd Future Wolf Gang Kill Them All ist ein anarchischer musikalischer Epilepsieanfall. Alles andere ist dagegen nichtig und unwichtig. Ich falle hiermit virtuell auf die Knie aus Verehrung vor den fünf Dudes, die halb so alt sind wie ich, und nach ihrem gestrigen Konzert auf der Pitchfork Stage des Primavera Sounds bin ich nicht die Einzige. Sie haben den Laden auseinandergenommen - metaphorisch und tatsächlich.

natalie brunner

Am Ende ihrer Show waren zirka 200 Menschen auf der Bühne, die mit Tyler the Creator, MC Hodgy Beats, Mike G., Domo Genesis "Fuck the World it's our future" brüllten und die Bühne zerlegten, ihren Hass auf die Dummheit der Konsum- und Unterhaltungskultur auskotzten.

natalie brunner

Nach soviel Soul Searching, subtilen Zwischentönen und manchmal auch selbstmitleidigem Weicheiertum habe ich verstanden, warum obszöne Scheiße rappende, destruktive Teenager genau das sind, was diese Welt gerade braucht und verdient hat. Mein erklärter Held des Abends ist Hodgy Beats, der die Hälfte der Show irgendwie zuckend mit überdrehten Augen rappt und von Zeit zu Zeit von der Bühne springt, als wäre er unverletzbar und unter ihm nicht Beton und Menschen, sondern ein Swimmingpool. Keine Rücksicht auf Verluste.

natalie brunner

Dem OFWGKA-Mitglied Earl Sweatshirt, der von seiner Mutter, nachdem ihr das Ganze etwas zu bunt wurde, in ein Boot Camp in Samoa gesteckt wurde, gedachten seine Brüder auch im Rahmen der Free Earl Campaign.

Neben all den unverzichtbaren Perlen von OFWGKTA, die man sich aus dem Netz saugen kann, ist vor ein Paar Wochen das Album des Filmhochschulstudenten Tyler the Creator "Goblin" regulär erschienen, inklusive dem hymnischen "Radicals" und dem großartigen "Yonkers".

OFWGKA-Freund der ersten Stunde Christian Lehner wird euch in Kürze mehr darüber berichten.

Was ist noch passiert?

Ich habe Matthew Dear getroffen. Es war gar nicht so leicht. Nicht dass ich dem Ghostly International Artist mangelnde Individualität vorwerfen möchte, aber ich kenne ihn nur aus seinen Videos und in der Hotel Lobby des Festival sehen alle Typen aus wie er in seinen Videos.

natalie brunner

Schwarze Lederjacke, Jeans, weißes T-Shirt. Nachdem ich es geschafft habe, durch meinen meisterlichen Umgang mit Smartphones die Handyvorwahl von Michigan herauszufinden, sitze ich kurze Zeit später mit Mr. Dear im 23 Stock am Hotelpool und er erzählt sehr schöne und poetische Dinge über die Geister und Dämonen, die man im Nachtleben trifft, dass sein jüngstes Album "Black City" nicht so konzeptuell ist, wie viele Journalisten es gerne hätten, warum die Zeiten besser werden und wie sich das in seinem nächsten Album spieglen wird und vor allem wie Technologie die Ästethik und Sprache verändert, in der wir unsere Emotionen ausdrücken.

Kein Problem mit der Unmittelbarkeit von emotionalem Ausdruck hat tUnE-yArDs, das Projekt von Merrill Garbus. Sie erzeugt live ihren Sound, indem sie Drum Loops übereinanderlegt und das ganze mit ihrem Gesang und ihrem Ukulele-Spiel loopt. Zum Primavera ist sie mit einer vierköpfigen Band angereist. Wenn ihre Nummern wie bei Bizness strukturiert sind, man Rhythmus-Beats und ihre Stimme akzentuiert hört, dann sind es Geniestreiche.

Wenn tUnE-yArDs in einer Klangwolke entschwebt und jodelt, als würde sie eine Yak-Herde durchs Hochland von Naboo dirigieren, dann wird es zuviel für meine Nerven.

natalie brunner

Ich warte auf Gonjasufi, amüsiere mich über einen Typen der schon seit drei Tagen mit einem Schild, dass er sich für MDMA prostituieren würde, herumrennt, und genieße den Ausblick auf dem Hafen. Die Pitchfork-Bühne, bei der ich Samstag Nacht mehr oder weniger campiere, ist direkt am Wasser gelegen. Zur Rechten liegen schnuckelige Yachten im Trockendeck.

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Gonjasufi betritt im Obdachlosen-Style die Bühne und beginnt ohne großes Intro mit seinem Exorzismus. Er hat eine Band im Rücken und rappt und schreit gebückt mit Gesicht zum Boden. Seinem Schlagzeuger dürfte so gegen Mitte des Konzerts das MDMA, das der Typ mit dem Schild nicht gefunden hat, einfahren. Er steht auf dem Boxenturm und macht mit den Armen Bewegungen wie ein kleines Vöglechen, dann tanzt er wieder ein bisschen auf der Bühne im Kreis, dann mit geschlossenen Augen kleine Rekuperation in der Mitte der Bühne, um anschließend mit frischen Kräften seinen Bandkollegen die Instrumente abzunehmen, um selbst aus ihnen Feedback-Geräusche herauszukitzlen. Ich bin derart fasziniert von der Darbietung des jungen Herrn, dass ich mich gar nicht so sehr auf Gonjasufi konzentriere. Es sei nur festgehalten, sollte ich den Exorzisten neu verfilmen, macht er den Soundtrack. Das Gebräu aus Hip Hop, Dub und psychedlischem Mystizismus, den er in der Wüste um Las Vegas ausbrütet, erscheint mir ideal dafür.

primavera sounds Inma Varandela

P.J. Harvey ist in erster Linie sehr schön musikalisch und auch anzusehen. Die P.J. Harvey, die ich am besten kenne, ist die junge zum Skelett abgemagerte Frau aus der selbstzerfleischenden Rid of Me Phase Anfang der 90er Jahre. Das ätherische Wesen im weißen Kleid und mit Federn am Kopf, ein Outfit, mit dem sie auch in der Elbenstadt Bruchtal eine strahlende Erscheinung wäre, ist nur der banalste und äußerlichste Indikator, wie weit der Weg ist, den Polly Jean Harvey seit damals in Richtung Seelenfrieden und reguliertem Zorn zurückgelegt hat.

Ich robbe mit Wadenkrämpfen nach drei Tagen und Nächten Rumlaufen zur Pitchfork Stage und versuche beim DJ Set von James Blake nicht einzuschlafen. Verstehen Sie das keinesfalls als Diss, meine werten Leser, ich bin einfach nur müde. Alkohol gemischt Zucker von der Bar und Lil Wayne gemischt Africa Hitech helfen mir die 90 Minuten noch bis zum Beginn von Odd Future Wolf Gang Kill Them All nicht ins Koma zu verfallen.

Und dann ging es los. Kill People Buy Shit Fuck School. Fünf Minderjährige machten mich für eine Stunde zum glücklichsten alten Teenager des Universums.