Erstellt am: 28. 5. 2011 - 19:09 Uhr
Journal 2011. Eintrag 105.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll. Inklusive Fußball-Journal '11. Das begleitet nach dem Jahr 2010 auch 2011 ungeschönt und ohne Rücksichtnahme auf Skandalisierungen und Stillhalte-Abkommen, die den heimischen Fußball-Journalismus so mutlos daherkommen lassen, egal ob Bundesliga, Meisterschaft und der Cup, der ÖFB und das Nationalteam, das europäische Geschäft, der Nachwuchs und die vielen Irrsinnigkeiten im Umfeld.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute: was die Platzsturm-Aktion der Rapid-Ultras mit dem Wutbürger zu tun hat.
Der dümmste Satz in der Stellungnahme der aktiven Rapidfans, die die vereinigten Ultras Donnerstag frühabends der Öffentlichkeit zukommen ließen, lautet so: "Es sind die Gründe für diese Vorfälle nicht in der Gesellschaft zu suchen, es geht einzig und allein um die Leistung der Mannschaft sowie das Handeln des Vorstands von Rapid."
Dieser seltsam beharrliche Satz bezieht sich auf die vielen Analysen nach dem Platzsturm von Rapid-Hooligans beim Wiener Derby am letzten Sonntag, in denen von der sozialen Unverträglichkeit der vielen Problemfälle, aus denen nach Ansicht der Gesellschaft die Ultras zusammengesetzt sind, die Rede war. Alles eh nur rabiat gewordene Bubis mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom konstatierten die einen, während die anderen an die Notwendigkeit sozialpolitischer Interventionen glauben, die diese gesellschaftlich am Rand stehenden, zur Gewalt neigenden Gruppen einfangen müsste.
In diesem Licht ist die verkrampft-beleidigte Abwehrhaltung der auch im restlichen Text total reflexionsresistenten (und an die eigenen Schwindeleien glaubenden) Ultras besonders lächerlich - und bietet genug Anlass für möglichen Spott.
Bürgerliches Distinktionsdenken tappt hier in eine Falle
Er enthält aber auch eine Falle; und in die sind bislang so gut wie alle Medien und auch etliche der Soziologen getappt. Die kindische Trotzreaktion der Ultras verstellt nämlich den Blick auf die Platzstürmer als Vorhut einer möglichen Wut/Protestbürgerbewegung, als Anzeichen einer allgemeingesellschaftlichen Eskalation.
Denn die Tatsache, dass man sich hier schnell und billig auf besondere Stupidität der Akteure ausreden kann, sollte nicht über eine Tendenz hinwegsehen lassen.
Nur weil sie niemand als 'Bürger' sieht und die allermeisten ihre Wut als Kinderkram ansehen, bedeutet das nicht, dass sie, aus ihrer Selbstsicht, keine Wutbürger sind.
Die Motive der Ultras für ihre Selbstermächtigung mögen diffus und grotesk sein - strukturell unterscheiden sich die Vorgänge von letztem Sonntag aber gar nicht so stark von, sagen wir, der #unibrennt-Aktion des Herbstes 09, als lange Jahre genervte Studierende das Wiener Audimax besetzten und damit eine europaweite Protestbewegung losgetreten haben.
Zuerst steht/stand in beiden Fällen ein über Jahre hinweg entstandener Frust über die Situation der Institution, die die jeweiligen Leben strukturiert und/oder mit Sinn erfüllt (im einen Fall die Uni und das vermodernde Bildungssystem, das sich zunehmend die Vorgaben einer die Menschen ausbeutenden Wirtschaft erfüllt; im anderen Fall Rapid und der "moderne Fußball", der die Bedingungen des Kapitalismus übererfüllt).
Frustration - Selbstermächtigung - Veränderung
Danach folgt eine Definition der eigenen Rolle: will man eine Entwicklung zum Schlechteren hinnehmen wie das Opferlamm ("Twenty years of schooling and they put you on the day shift") oder "was unternehmen" dagegen?
Das ergibt, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, der nächsten Provokation dann eine abgesprochene oder zumindest in seinen Grundzügen vorbereitete Aktion, also den Beweis der Handlungsmächtigkeit.
Und natürlich ändern Aktionen wie diese etwas - auch wenn das von den Verantwortlichen natürlich beeinsprucht werden würde.
Andererseits: allein die Tatsache, wie die Rektoren oder der neue Minister heute mit den Studenten umgehen, belegt das Änderungs-Potential solcher Aufstände. Und im Fall von Rapid wird das nicht anders sein.
Nun lässt sich dagegenhalten, dass beide Gruppen (die Studis auf der einen, die Hools auf der anderen) nicht den gesellschaftlichen Mainstream stellen, weshalb diese Aktionen keine Folgewirkungen haben werden. Beidem darf ich widersprechen.
Denn abgesehen davon, dass der gemeine Ultra längst nicht mehr nur aus den White-Trash-Schmieden der Trabantenstädte stammt, sondern sich zunehmend auch aus frustrierten jungen Mittelklasse-Männern rekrutiert - gerade aufgrund der politischen Naivität der Ultras.
Gefühlte Ohnmacht, Abgehängt- und Verarschtwerden
Denn letztlich repräsentiert das (teilweise unerträgliche) Gejammer der erwähnten Fan-Stellungnahme genau die diffuse mit Frust gemischte Unsicherheit, die aktuell in ganz Europa samt Mittelmeerraum umgeht.
Was sich aktuell an der Puerta del Sol oder am Plaça Catalunya, im benachbarten Portugal, in Griechenland oder im Vorjahr in Stuttgart abspielte und abspielt, läuft nach den exakt selben Selbstermächtigungs-Mustern ab.
Unterschiedlich sind nur der Auslöser, das Ventil und die äußere Form. Und die gesellschaftliche Relevanz; aber auch das nur an der Oberfläche. Darunter geht es ums selbe: um gefühlte Unterdrückung, gefühlte Ohnmacht, inexistentes Mitspracherecht, Abgehängt- und Verarschtwerden.
Normalerweise sagt man, dass ein Protest umso erfolgreicher ist, je kleiner und direkter er angesetzt ist - weshalb der bürgerlich-konservative Protest in Stuttgart auch so effektiv funktionierte.
Bei allem, was diffusere und komplexere Hintergründe hat - wie eine Wirtschaftskrise, eine Unter- oder Nichtbeschäftigung ganzer junger Generationen oder auch etwas so Scheinbanales wie ein routiniert kapitalistischen Mustern folgender moderner Fußball - wird auch der Protest dagegen diffuser. Auch das, was einmal mit recht klarer Stoßrichtung begann (man sehe sich nur die Mitteilungsblätter, die die Rapid Ultras 2006 noch ausgeschickt hatten, an), versackt im weinerlichen Nachbeten populistischer Boulevard-Vorwürfe.
Wo ihr nicht entsprecht, besetzen wir
Denn auch im Zelebrieren eines "Die da oben machen ja doch, was sie wollen"-Frusts sind sich der heimische Mainstream und die Rapid-Ultras unglaublich einig.
Sie sind sich einig darin, dass sie nicht wissen, wo sie hin sollen mit ihren öffentlichen Emotionen, mit ihrem politischen Ärger, wo sie gesellschaftlich Dampf ablassen können - und vor allem in einer am Ideal der Konsens-Demokratie orientierten Tradition des Verschwimmens, Verschwurbelns und Vertagens beginnt hier der Kochtopf zu pfeifen.
Dass sich in einer solchen gesamtgesellschaftlich durchaus aufgeladenenen Stimmung dann die, die sich selber als die am tiefsten unten Befindlichen empfinden, die von der Globalisierung abgehängten, ökonomisch Zukunftslosen, die dann nur noch ihr kleines hysterisches Privatissimum, ihre Religion Fußball haben (und sich von "denen da oben" auch noch dort hinein verfolgt fühlen) als erste platzen und ihr Innerstes nach außen stülpen - eigentlich logisch.
Morgen, in einer Art zweiten Teil: der Versuch diese Entwicklung demokratiepolitisch zu verorten.
Der Soziologe und Fußball-Experte Roman Horak spricht von der symbolischen Aneignung des Platzes, weil ein Teil der gemeinsam getragenen Kultur "seine Pflicht nicht erfüllt" und somit einen gesellschaftlichen Vertrag gebrochen hat: "Die dahintersteckende Botschaft lautet: Wo ihr nicht entsprecht, das besetzen wir."
Das ist, mit Verlaub, auch die Botschaft der Unibrennt-Bewegung, der spanischen Revolte, der arabischen Revolutionen dieses Jahres.
Und ein möglicher, ja wahrscheinlicher Auftakt für andere Aktionen der Selbstermächtigung, von denen wir uns aktuell noch gar keine Vorstellungen machen. Ja, mitten in Österreich.