Erstellt am: 28. 5. 2011 - 19:16 Uhr
Primavera 3
Es sieht nach Regen aus. Der Tiefdruck macht auch meine Augenlider schwer. Auf der Plaça de Catalunya ist heute mehr los.
natalie brunner
Gestern wollten die Mossos d'Esquadra, die Stadtpolizisten von Barcelona, den Platz räumen, weil Samstag alles bereit sein sollte für ein großes Championsleague BBQ. Es endete in einem Gewaltexzess. Der junge Mann, dessen Rücken ihr hier seht, ist Architekturstudent und wird von einer Freundin meiner Obdachgeberin unterrichtet. Sie hat heute in der Früh das Foto ihres Studenten ausgesendet.
natalie brunner
In ihrem Mail ist zu lesen: "After this happened yesterday morning, responsible politician Felip Puig said the action was done with prudence and caution. The exact Catalan words were: 'seny, cautela i prudència'.One of my student sends me the attached picture. On the third video minute 0:29 you can see the attack. Please pass on. Thank you so much for spreading the information."
Heute ist die Plaça de Catalunya derart voll, dass man schon mit einer Armee anrücken müsste, um die Leute weg zu prügeln.
natalie brunner
Das kapitalistische Kastensystem ist auch beim Primavera spürbar. Ich werde angebrüllt, weil ich versuche, durch den falschen Eingang das Festival zu betreten, die Obdachgeberin ist Telephonterror ausgesetzt, weil eine Bekannte unbedingt ihr Band mit ihr tauschen will, um einen Typen anzubraten, der im VIP abhängt. Die schwer nervige Bandtauschaktion geht über die Bühne, ich nenn die Hipster-Prinzessin blöde Sau und muss feststellen, dass die Sprache der Missgunst international verständlich ist. Eins zu null gegen mich. Ich lausche, um mich von dem sozialen Faux Pass abzulenken, in der letzten Reihe den The National.
primavera sounds eric pamies
Ich muss feststellen, dass nicht nur ich der tragischen Schwere des Quintetts aus Ohio etwas abgewinnen kann, sondern auch die fetteste Ratte, die ich seit langem gesehen habe. Das Tier am Foto als schwarzer Punkt ausmachbar, sitzt auf der anderen Seite der Absperrung und lauscht drei Nummern lang der Bariton-Stimme von Mat Beringer. Bedächtige Introspektive gefällt auch den Strandratten. Aufgrund meines vorangegangenen Furors fühle ich mich seelenverwandt.
natalie brunner
Auf dem Weg zu Ariel Pink's Haunted Graffiti stelle ich fest, dass heute alle irgendwie auf sophisticated machen. Die Anmaßung von Eleganz liegt in der Festivalluft. Das muss an Pulp liegen. Wir flanieren über die Strandpromenade und die uns entgegenkommenden Menschen sind mindestens so alt wie ich, dass heißt, so alt, dass sie sich an die hier allerorts zitierten 90er Jahre noch erinnern können. Ob diese Publikumszusammensetzung an dem um sich greifenden Konzept liegt, ältere Bands ihr erstes oder legendärstes Album aus den frühen 80er Jahren spielen zu lassen?
Auf einem anderen Festival war der Musikkritiker des El Pais. Er beklagt anhand von Bands wie Ariel Pink's Haunted Graffiti oder Salem den postmodernen Infantilismus und die unzureichenden Musikkenntnisse der „jungen“ Bands. Er bedauert die ästhetische Entscheidung für aus dem Boden gestampfte Amateure des popkulturellen Glücksrads und schreibt von einer neuen, unglücklichen Betäubungsmittel-Musik, fabriziert von Kindern, die nicht über ihre eigene Nasenspitze hinaussehen und einfachste Maxime der Unterhaltung ignorieren.
natalie brunner
Obwohl ich nicht prinzipiell der Meinung bin, dass früher alles besser war, kann ich den wagen psychedelischen Skizzen von Ariel Pink's Haunted Graffiti nicht allzuviel abgewinnen, zu schwach ist der Sog, um mich hineinzuziehen. Ich wundere mich über die Programmierung der verschiedenen Bühnen und frage mich, warum so eine Band auf der gleichen Stage wie James Blake, Burial, Jamie XX und Kode 9 spielt. Das Festivalpublikum ist grausam und sobald auf der benachbarten Bühne Belle and Sebastian beginnen, setzt eine Massenabwanderung ein.
primavera sounds Dani Canto
B&S verbreiten friedvolle Abgeklärtheit, ich stelle mir vor, wie sie allesamt in ihrem Regenbogenbus angereist sind, und unterstelle Stuart Murdoch einen Simon & Garfunkel Vibe zu verbreiten. Ist das ein schweres Sakrileg, liebe Leser? Das Retroprogramm geht weiter mit dem andächtigen Indie Country von Low.
natalie brunner
Die Band ist total in sich versunken. Ich komme auch zur Ruhe und mir fällt zum ersten Mal auf, was für eine emotionale und physische Belsatungsprobe ein Festival sein kann, wenn man alle 45 Minuten eine andere intensive Stimmung auf sich wirken lässt. Es kostet Energie, alle 45 Minuten in eine andere Welt zu fallen. Die Menschen sitzen zusammengekauert auf einer Böschung. Low singen über Todesahnungen und das wälzt um und wühlt auf. Mehreren Leuten neben mir rinnen bei Murder Tränen über die Wangen.
Pulp
Charme, Kühle, Eleganz, Distinktion, Verführung, Humor, wenn ich nicht wie all die 35-jährigen Gören um mich herum von der ersten Sekunde an in Begeisterungsschreikrämpfe verfallen wäre, könnte ich diese Jarvis-Attribute vielleicht in einen sinnstiftenden Zusammenhang bringen.
primavera sounds Inma Varandela
Andächtiges Röcheln dringt von allen Seiten an mein Ohr, als Pulp ihr Set mit „Do you remember the first time?“ beginnen. In meinem Ladies-Sektor ungebrochen Boyband-Schreikrämpfe. Erwachsene Frauen mutieren zu Teenagern. In der ersten Bühnenansage lässt uns Jarvis wissen, dass es das erste Konzert in sehr sehr langer Zeit ist und wie viel Geschichte Pulp und das Festival verbindet. Im ersten Teil der Show spielen sie etliche Nummern von His n Hers. Jarvis erzählt uns davon, wie es ist in einem Wandschrank mit dem Geruch von Mottenkugeln in der Nase die Wunder der Sexualität zu erkennen, und es ist großes Entertainment, Komödie und Tragödie in einem.
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Die Kühle der Ansagen und vollendete Eleganz seiner Exzess zitierenden und persiflierenden Bühnenshow steht im Widerspruch zum total unkontrollierten Freakout des Publikums. Auch Pulp verbeugen sich tief vor Suicide und artikulieren ihre Abscheu gegenüber auf Demonstranten einprügelnde Polizisten. Disco 2000 klingt auch 2011 noch sehr gut und ich ziehe ernsthaft in Erwägung den Rest meines Sommers damit zu verbringen Pulp nachzureisen.