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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

26. 5. 2011 - 17:00

Auch Neil Diamond ist siebzig

Ein paar sentimentale Gedanken vor meinem Treffen mit einem der größten Songschreiber überhaupt.

Die Sachen, die einem so zufliegen. Neil Diamond spielt demnächst in Berlin, das war der Auslöser dafür, dass sie mich gefragt haben, ob ich nicht in London mit ihm sprechen wolle. Na was schon, nein werd ich sagen.

Und jetzt bin ich also auf dem Weg in die Stadt in eines der üblichen Hotels, wo man Leute vom Schlag eines Neil Diamond trifft, hab die Ohren voll mit seinen Songs und merke, dass da eine Geschichte drin liegt, die vermutlich schon aus meinem Kopf verschwunden sein wird, wenn ich einmal das Interview hinter mir hab.

Wie es sich trifft, ist Neil Diamond nämlich siebzig, genauso wie ein gewisser anderer Songschreiber, von dem man hier und sonstwo in den letzten paar Tagen so viel gelesen hat (meine eigene Mitschuld nicht ausgenommen). Ich kann mich nicht erinnern, dass es rund um Neil Diamonds Jubeltag am 24. Jänner so viel Aufsehen gegeben hätte.

Und ich kann auch nicht so tun, als würde mich das wundern, selbst wenn Neil Diamond in den letzten Jahren dank einer Rick Rubin-Kur die große Wiederentdeckung zuteil geworden ist, selbst wenn er 128 Millionen LPs verkauft haben mag und noch 2008, Monate, bevor ihm Dylan diesen Rekord abgenommen hat, mit 67 Jahren der älteste Künstler mit einem Nummer Eins-Album in den Billboard-Charts war.

The Feel of Neil Diamond - LP-Cover

Bang Records

Schließlich bin ich selbst im Alter jener RedakteurInnengeneration, die kollektiv beschlossen hat, den Dylan-Geburtstag zur großen Sache zu machen, und wir sind geprägt von einem heute kaum mehr nachvollziehbaren „wir gegen die“-Kodex.

Bob Dylan war eindeutig einer von "uns", selbst, wenn er sich verlaufen hatte (meine erste Pop-Sozialisation fiel in seine messianisch-christliche Phase), Neil Diamond dagegen war immer schon einer von "denen".

Meine Jugend im Pop-Stalinismus

In der Zeit direkt nach Punk gab es keine, nicht einmal eine ironische Toleranz für Glitzer-Hemden und die Sorte Tanzbär-Beats, zu der die Erwachsenen, die immer noch Glockenhosen trugen, jene eigenartig verhaltenen Tanzschritte taten, die so aussahen, als würden sie, forever und seit jeher in Blue Jeans, auf einem Puddingboden am Stand laufen. „Beschwingt“ war das böse Wort.

Die Tatsache, dass Neil Diamond mit „I'm a Believer“ und „(I'm not your) Steppin' Stone“ die Vorlage für zwei zwingende Garagenbeat-Klassiker geliefert hatte, ging in Anbetracht der mit typisch österreichischer Beharrlichkeit über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg präsenten Radiobeschallung durch Schnulzen wie „Song Sung Blue“, „America“, „Love on the Rocks“ oder „Sweet Caroline“ gerade einmal als kuriose Verirrung durch. „The Last Waltz“ sehen und verstehen, das kam ehrlich gesagt erst später.

Hallo, ORF-Gesetz, altes Haus, ich habe vor, diesen Blog-Beitrag aber sowas von sendungsbegleitend zu machen, indem ich mein nächstes Heartbeat am 6.6.2011 einfach zum Neil Diamond-Special umfunktionieren werde.

Wir waren die reinsten Pop-Stalinisten, wir glaubten an die Gut-und Böse-Mythen, die wir von der Rock- und auch der Punk-Hegemonie gefüttert kriegten, und so sehr ich unsere verbitterte Schlager-Intoleranz im Nachhinein nachvollziehen kann, so sehr waren wir darin damals schon Heuchler, wie spätestens der große Dammbruch der anfangs noch verschämt ironischen Easy Listening-Welle in den Neunzigern belegen sollte.

Auch wenn wir es nie zugegeben hätten, war der Katalog des Neil Diamond für uns mindestens so prägend wie der Dylans.

 Cover LP Neil Diamond's Greatest Hits

Bang Records

Dylan gehörte dem Plattenspieler. Die Leute schreiben von Lagerfeuern, wo sie seine Songs ständig gehört haben, aber allzu viele Lagerfeuer hab ich in meiner Sozialisation ehrlich gesagt nicht erlebt, und misse das auch kaum.

Neil Diamond dagegen war der Soundtrack verregneter Autobahnfahrten, das Zeug, das sie im Radio spielten, wenn wir dieselben drei Kassetten nicht mehr hören konnten oder der Player wieder das Band aufgefressen hatte.

Während ich das schreibe, höre ich übrigens gerade das Heimdemo von „What A Beautiful Noise“ aus den Siebzigern, auf dem Neil Diamond sich auf der Gitarre diese große Nummer ersingt, während seine kleinen Töchter jauchzend miteinstimmen. Und dieses rührende Dokument geht über in die fertige Version des Songs mit ihrer Bierzelt-tauglichen Unisono-Begleitung, deren Arrangement per Fallschirmabwurf mitten im Programm jeder Hochzeitsband der Welt landen sollte.

Die Geschichtslüge von der bösen Tin Pan Alley

Die schiere Sentimentalität dieser Musik ist doch gerade wegen der Gewöhnlichkeit der Erinnerungen, die sie heraufbeschwört, so herzzerreißend. Der Geruch der Schmalzbrote in der Fußballvereinskantine. Die schmerzenden Waden nach den wochenendlichen Museumsbesuchen. Das brüllende Kopfweh, das wir im Auto von den parfümierten Zigaretten der Eltern kriegten. Die tief empfundene Tragik der endlosen Langeweile. „September Morn“.

Neil Diamond Cover September Morn

CBS

Little did we know, dass Neil Diamonds Anfänge eigentlich genau dieselben waren wie die eines Lou Reed, nämlich das Auftragssongschreiben für den Teenagermarkt. Auch hier ein großer Fehler im überlieferten Narrativ, Dylan und die Beatles hätten einst den Popsong emanzipiert, indem sie - anstelle der zur Herstellung von dumpfen Jugendnarkosemitteln angeheuerten Songschreiber-Profis aus der Tin Pan Alley - nun selbst für ihre eigene Generation zu schreiben begannen.

Tatsächlich waren jene SongschreiberInnen im Brill Building am Broadway, die all die ach-so-kommerziellen Teenager-Symphonien schrieben, alle erst in ihren frühen Zwanzigern oder gar selbst noch Teenager, die meisten von ihnen jüdische Kids aus Brooklyn, darunter Neil Diamond, die junge Carole King und Gerry Goffin, Ellie Greenwich und Jeff Barry, Barry Mann und Cynthia Weil (interessant übrigens der auffällig höhere Frauenanteil im Vergleich zur Welt der Protestsänger, Beat- und Rockbands).

Aus welchem Baum sie diese Melodien pflückten, deren Wurzeln ebenso im Musical wie im Rock'n'Roll lagen, die aber in jene hochmoderne Form des Popsongs mündeten, die erst erfunden werden musste, das ist ein mindestens so faszinierendes Mysterium wie Bob Dylans Metamorphose vom Guthrie-Imitator zum Poet Laureate der Gegenkultur.

Mindestens!

So, und jetzt muss ich Schluss machen, inzwischen bin ich nämlich schon im Hotel an der Park Lane angekommen, hatte meinen Sandwich, und Neil wartet bereits im sechsten Stock.