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27. 5. 2011 - 06:32

Die unheilige Dreifaltigkeit

"Warum ist es vielen Menschen so verdammt wichtig, Serben, Kroaten oder Moslems genannt zu werden?" Ana Raos ist zu Beginn des Bosnienkriegs nach Deutschland geflüchtet. Heute lebt sie wieder in Sarajevo. Plus: Das Jugendzimmer on demand zum Anhören.

FM4 Jugendzimmer live aus Sarajevo

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Text: Ana Raos

Ich wurde vor 31 Jahren, 7 Monaten und 18 Tagen in Sarajevo im damaligen Jugoslawien geboren. Aufgewachsen bin ich noch im Geiste Titos, wo "Brüderlichkeit und Einheitlichkeit" ganz groß geschrieben wurden. Der Tag, an dem wir Titos Pioniere wurden, ist ganz wichtig für jeden Erstklässler gewesen. Ich erinnere mich an blaue Mützen und rote Halstücher, an Sportspiele am Tag der Jugend, an Ausflüge, Schulwettbewerbe und eine sorglose, glückliche Kindheit. Der April 1992 hat alles verändert.

Nachdem mein Vater verhaftet worden war, haben meine Mutter und ich die Nächte und Tage im Keller unseres Nachbarn verbracht. Es waren drei Häuser: ein "muslimisches", ein "serbisches" und ein "kroatisches". Wir alle haben dort Essen, Betten und Geschichten geteilt. Denn dieser Keller war unser gemeinsamer Lebensbeschützer. Wie paradox muss das eigentlich gewesen sein. Auf uns wurden Granaten geschossen, weil es wohl nicht mehr gewünscht war, gemeinsam zu leben. Und dennoch konnte uns niemand verbieten, weiterhin Menschen zu bleiben... keine Moslems, keine Serben, keine Kroaten... wir waren nur Menschen, die einen gemeinsamen Wunsch hatten. Zu überleben.

Ana Raos

Ana Raos

Ana Raos

Am dritten Tag klingelte jemand an der Tür. Die Erwachsenen hatten Angst, aufzumachen. Es hätten Soldaten sein können. Ich spürte eine unbeschreibliche Aufregung in der Brust, ich wußte, ich muss die Tür jetzt aufmachen. So rannte ich die Treppe hinunter, hinter mir hörte ich noch die besorgte Stimme meiner Mutter: „Nicht, Ana!“. Durch drei schmale Streifen aus Milchglas erahnte ich hinter der Eingangstür Konturen einer männlichen Gestalt. Ich machte auf. Mein Vater stand vor mir. Mit Drei-Tages-Bart.

FM4 Jugendzimmer Spezial (Freitag 19-20.15): Live aus Sarajevo - 20 Jahre nach Beginn der Jugoslawienkriege.

Das FM4 Jugendzimmer begibt sich in einer dreiteiligen Serie auf die Reise durch Ex- Jugoslawien. 1991 wurden mit dem Beginn der Jugoslawienkriege ökonomische, politische, kulturelle und soziale Verbindungen zwischen den einstigen Teilrepubliken weitgehend gekappt. Gibt es nun 20 Jahre danach eine neue „Jugosphäre“, also eine neue Zusammenarbeit am Westbalkan?

Ana Raos ist mit ihrer Familie zu Beginn des Bosnienkrieges geflüchtet. Auch Hana Stojic musste Sarajevo damals verlassen - sie kam nach Wien. Heute leben beide jungen Frauen wieder in Sarajevo. Wie haben sie nach dem Krieg beim Wiederaufbau geholfen? Wo stehen ihre Stadt und ihr Land gesellschaftlich, politisch und ökonomisch heute?

Claus Pirschner spricht darueber mit Hana und Ana live in Sarajevo im Jugendzimmer Spezial.

Du kannst mitdiskutieren! Entweder per Mail unter fm4@orf.at oder während der Sendung per Telefon. Die Nummer ins Studio: 0800 226 996 oder international +43-1-503-63-18

Noch am selben Abend mussten wir unser Haus verlassen. Denn die Nacht hätten wir nicht überlebt. So lautete die sichere Information unserer "serbischen" Nachbarn. Bücher aus meinem Schulranzen haben wenige Klamotten ersetzt... zuerst ein Wochenende am Land bei Verwandten, das war der hoffnungsvolle Plan... höchstens eine Woche, dann legt sich wieder alles. Es war aber keine günstige Zeit zum Planen. Über Zagreb und Kroatien bin ich mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen. Als Zwölfjährige habe ich tagtäglich in den Nachrichten Bilder von zerstörten Häusern und verwundeten Menschen in meiner Heimatstadt gesehen. Ich habe mich so hilflos gefühlt. Meine Freunde, Verwandte, Nachbarn sind vielleicht umgekommen und ich war so weit weg und konnte nichts tun. Das Heimweh und die Besorgnis waren manchmal nicht auszuhalten. Gierig lernte ich Deutsch, denn ich wollte dazu gehören, ich wollte verstehen und verstanden werden. Es war aber schwer, diese Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. Und es war unmöglich, langfristig zu denken, Wurzeln zu schlagen, denn niemand wußte, wie lange wir noch da bleiben würden. Letztendlich sind es fünf, anfangs schwierige, aber durchaus wichtige Jahre meines Lebens in Deutschland geworden. Sie haben meinen Horizont erweitert. Heute betrachte ich Darmstadt als meine zweite Heimatstadt.

Was aber noch viel schwieriger war, war unsere Rückkehr nach Sarajevo. Alles war anders, Menschen waren anders. Ich musste mich beweisen, ich konnte es nicht begreifen. In den vergangenen 14 Jahren habe ich viel gelernt. Die anfänglichen Schwierigkeiten haben mich stärker gemacht und heute fühle ich mich in meiner Geburtsstadt zu Hause. Das war '97 nicht der Fall.

Heute bin ich Germanistin und Gerichtsdolmetscherin für die deutsche Sprache. Ich habe das Glück, an einem wirklich tollen Projekt am Goethe-Institut zu arbeiten. Unter der Bezeichnung "Schulen: Partner der Zukunft" lernen unsere Schüler Deutsch durch vielfältige Programme. Sie dürfen auf Deutsch dichten, singen, reimen, mit Theaterstücken auftreten. Und sie dürfen reisen. Mit dem Theaterstück "Mauerstücke" sind sie sogar in Berlin aufgetreten. Nach einer erfolgreichen Tour durch Bosnien und Herzegowina geht es im nächsten Monat u.a. ab nach Zagreb und Belgrad. Im Stück geht es um Bau und Fall der Berliner Mauer, und was das für die Menschen damals bedeutet hat. Sarajevo-Berlin-Zagreb-Belgrad und eine gemeinsame Mission unserer Schüler: die Mauern in den Köpfen der Menschen abzureißen. Durch meine Arbeit habe ich die Möglichkeit, zur Bildung und Meinungsbildung der Nachwuchsgeneration beizutragen. Die Jugend von heute wird in wenigen Jahren dieses Land führen. Das gibt Hoffnung. Zudem sind ihre lächelnden Gesichter die beste Belohnung! Das bringt innerliche Zufriedenheit und dieses Gefühl ist unbezahlbar.

Alststadt von Sarajevo

Sarajevo

In der Altstadt von Sarajevo

Das Leben in Sarajevo hat etwas. Es ist allgemein bekannt, dass Sarajevo einen besonderen Geist hat, der alle und alles um sich herum mitreißt. Obwohl es tausend andere Städte gibt, wo man sicherlich besser leben kann, bin ich glücklich. Meine Säulen sind meine Freunde und die Arbeit. Auf der anderen Seite auch die Zeit, die ich für mich habe, meine kleine, eigene Welt, in der bestimmte Störfaktoren unerwünscht sind. Um diese kleine, aber wertvolle Welt aufrecht erhalten zu können, müssen Nachrichten, Medienpropaganda. Politik und ähnliche schmutzige Sachen gemieden werden. Obwohl das ja kaum möglich ist, weil wir täglich von allen Seiten regelrecht bombardiert werden. Oft denke ich: in Ordnung, es wird nicht mehr geschossen, alle sagen, der Krieg ist vorbei. Aber der Kampf, der heutzutage stattfindet, ist so etwas wie der verlängerte Arm von damals. So kommen wir keinen Schritt voran, weil wir ständig an den Krieg erinnert werden; so heilen unsere Wunden nie. Und vor allem wird alles verdreht und beliebig dargestellt... wir haben ja drei verschiedene Perspektiven... die unheilige Dreifaltigkeit...ach, wie herrlich damit gespielt werden kann.

Spuren des Krieges in Sarajevo

Ana Raos

Spuren des Krieges

Ich frage mich, warum es so vielen Menschen so verdammt wichtig ist, Serben, Kroaten oder Moslems genannt zu werden. Haben sie keine andere Identität? Sind ihnen andere Rollen im Leben überhaupt nicht wichtig? Wenn mich jemand fragen würde, was ich bin, wäre die Liste lang. Ich bin in erster Linie ein Mensch. Ja, Frau bin ich auch. Ich bin Freundin und Schwester, ich bin Tajras Tante und Emmas Patentante, ich bin Deutschlehrerin, Goethe-Mitarbeiterin, Katzen- und Tierliebhaberin, Pazifistin... Vieles könnte ich noch schreiben, aber mit Sicherheit würde in dieser Reihe niemals Kroatin oder Katholikin auftauchen. Ich bin nämlich Bosnierin. Und zu Gott beten kann ich auch in meinen vier Wänden und das geht niemanden etwas an. Das sollte jedermanns Privatsache sein.

Sarajevo

Ana Raos

Spuren der k.u.k.-Zeit entlang des Flusses Milijacka

Für die Zukunft aller Bosnier und Herzegowinier wünsche ich mir ein sinnvolles Bildungssystem, das unserem Nachwuchs die richtigen Werte beibringt, statt ihre kleinen Köpfe zu verpesten. Ich wünsche mir ein geregeltes Gesundheitswesen, in dem jeder Mensch mit Würde und Gleichheit behandelt wird. Ohne dafür einen Bekannten, Verwandten oder Freund im Krankenhaus zu haben. Ich wünsche mir mehr Grünflächen und Spielplätze statt Betonblocks und Einkaufszentren... Um es kurz zu fassen, wünsche ich mir Folgendes: dass wir aufhören, uns dreiteilen zu lassen!