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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

24. 5. 2011 - 10:44

Götterdämmerung

Dylan ist auch nur ein Wort: Der wortgewaltige Dichterfürst und geniale Textjongleur Bob Dylan ist 70 Jahre alt.

Shadows are falling and I’ve been here all day
It’s too hot to sleep, time is running away
Feel like my soul has turned into steel
I’ve still got the scars that the sun didn’t heal

(Bob Dylan: "Not Dark Yet")

Heute feiert Bob Dylan seinen 70. Geburtstag.

Ein geschätzter Kollege hat mir kürzlich erzählt, dass es nur einen einzigen Künstler geben würde, über den annähernd so viel geschrieben wurde, wie über Bob Dylan. Und das sei Richard Wagner. Nun ist Richard Wagner schon seit über 120 Jahren tot, Bob Dylan wird gerade 70, man kann sich also ausrechnen, wo das hinführen wird. Auch die letzten Tage waren voll von persönlichen Rückblicken, Einblicken oder Durchblicken in diversen Medien, von mehr oder weniger gehaltvoller Art.

Interessant ist in diesem Zusammenhang immer wieder die elitäre Haltung, die manche einnehmen, wenn sie über Dylan sprechen. Bob Dylan ist mit Sicherheit einer jener noch auf dieser Welt weilenden Künstler, die ihre Spuren weit über die Popmusik hinaus getragen haben. Die Frage, ob man noch etwas Neues über ihn sagen könne, kann eigentlich nur als schlechter Witz gemeint sein. Gerade bei Dylan braucht es immer wieder neue Zugänge, ein Verständnis dafür, warum dieser Mensch aus Fleisch und Blut zum Mythos Bob Dylan aufsteigen konnte, wieso seine Texte eine fast bibelähnliche Schwere aufweisen, und wie es möglich ist, dass sogenannte "Dylanologen" ihr ganzes Leben diesem einen Mann widmen.

Bob Dylan

EPA (Niels Meilvang)

Das Dispositiv Dylan

Nun hat man mich gebeten, etwas zu Dylans Geburtstag zu schreiben. Vermutlich weil ich einer von Blumenaus zitierter "dritter Generation" bin. Einer, dem all die Kontexte zwar bekannt sind, der allerdings nicht so verbissen an die Sache rangeht. Einer, der die Spätphase Dylans nicht zwingend mit seinen frühen Werken vergleichen muss. Einer, der sich schlichtweg von der Musik berühren lässt, oder nicht. Vielleicht einer wie DJ Mushroom. Kürzlich war ich dabei, als dieser, einer der führenden Dylan-Fans dieses Landes, daheim seine Plattensammlung durchforstet hat. Unzählige Vinyl-Platten, jedes bisschen irgendwas, das muss Liebe sein. Eine Liebe, die ich bei Dylan auch ab und zu empfinde.

Hauptsächlich bei seinen Texten. Denn das war immer mein Zugang zu Dylan. Ich bin auch einer dieser verteufelten Wissenschafter, der sich u.a. Dylans Songtexten angenommen hat, der Dylan rein in die Uni gebracht hat. Eigentlich ja nur am Rande, aber wenn man sich mit der Entwicklung der Songtextsprache beschäftigt, kommt man an Dylan nicht vorbei. Dann ist man gezwungen, die eigens erlebten Kontexte (z.B.: das Totsingen von "Blowin' in the Wind" im Schulunterricht zwischen "Moonlight Shadow" und "I Still Haven't Found What I'm Looking For") über Bord zu werfen, und die Texte neu zu sortieren. Dylan, der Dichterfürst, der mürrische Wortjongleur, der Meister der vernuschelten Phrasierung, der ewige Literaturnobelpreis-Kandidat. Spätestens hier ändert sich die Rezeption: ein Songwriter als Nobelpreis-Kandidat? Was ist denn da passiert? Da fragt man am besten Allen Ginsberg, der Dylan gern mal vorschlägt (im Video zu "Subterranean Homesick Blues" hier im Hintergrund):

Bob Dylan ist ein Schwammhirn: Er ist belesen, er kennt seinen Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, William Butler Yeats, Ezra Pound, die Beat Generation-Autoren wie Jack Kerouac und Dichter wie T.S. Eliot und Dylan Thomas. Es ist nachgewiesen, dass sich Dylan aus allen Ecken inspirieren hat lassen, auch von der Literatur. Er kann schreiben, keine Frage, auch wenn es für seinen Roman "Tarantula" nur halbherzig gereicht hat. Denn Dylans Medium war und ist immer der Song gewesen, in dem er sein literarisches Wissen, sein natürliches Talent für Rhythmus und Phrasierung in seiner Musik ausleben kann.

Und hier habe ich mich eingeklinkt: Dylan kommuniziert also nicht nur über Texte, sondern auch über das Medium des Popsongs. Die vielen Ebenen, von denen Text, Musik und Performance das wichtigste Zusammenspiel ergeben, hat Dylan perfektioniert. Die "dritte Generation" kann hier ruhig Foucaults "Dispositiv" in die Runde werfen: Ein Netz aus unterschiedlichen Elementen, die sich wechselseitig bedingen und verändern. Anders ausgedrückt: Dylan war einer der Ersten, der das Genre des Protestliedes (eine äußerst textlastige Gattung, in der Musik nur eine Begleitfunktion einnimmt) verlassen konnte und die E-Gitarre ausgepackt hat. Einer, der seine Performances bis heute jeden Abend ändert. Ein und derselbe Text ist an einem Abend ein düsterer, innerer Monolog, am anderen eine wütende Wortsalve. Ein Künstler, bei dem Text, Musik und Performance ein Netz ergeben, das als eine eigene Form von Literatur bezeichnet werden müsste. Literatur, die verbal und nonverbal kommuniziert. Und manchen Hit gerne auch mal umarrangiert:

Lang vor Lady Gaga, die gerade mit ihrem neuen Album aufzeigt, wie die Musik dem Gesamtkunstwerk untergeordnet werden kann, ist Dylan sein eigenes Kunstwerk, geschaffen von einem gewissen Robert Allen Zimmerman, den - weiß der Teufel - doch kaum einer wirklich kennt. Wenn ich mir heute alte Pressekonferenzen ansehe, in denen Dylan sich als junger Schlingel darüber lustig macht, dass man in seinen Songs "Botschaften" suche, muss ich grinsen. Der junge Dylan ist mir gerade wieder der sympathischste, aber das ändert von Tag zu Tag.

Spuren der Vergangenheit

Gestern zum Beispiel: "Not Dark Yet" von Dylans 1997er Album "Time ouf of Mind", dem Spätwerk und kleinen Comeback. Wenn man den Text liest, bekommt man bereits Gänsehaut. Schatten fallen und einer wartet den ganzen Tag, kann nicht schlafen, die Zeit läuft ihm davon. Es gibt keinen Raum zum Atmen, kein Platzerl für sich selbst. Es ist noch nicht dunkel, aber bald ist es soweit. Es ist der "alte Dylan", der mit einer seiner vielen Stimmen zu uns spricht. Die Stimme ist bekanntlich bei Dylan ein eigenes Kapitel, für viele ein Grund sofort abzuschalten. Aber Dylan hat viele Stimmen, altersbedingt heult er in jungen Jahren wie ein Wolf, wird später immer mehr zum Krächzer, die Stimmbänder werden eine Art Landkarte, die all die Wunden eines Lebens aufzeigt: "I’ve still got the scars that the sun didn’t heal". Und dann die Musik, diese kleine Melodie nach "Shadows are falling", die ich immer wieder später im Song suche, die aber nie wieder kommt. Dylan mag hier vom Altern singen, wie er sich nach einem langen Leben dahinschleppt, aber er trifft auch mich, auf der Heimfahrt, beim Starren in die Menge, wenn der Tag viel zu schnell endet.

Das Alterswerk Dylan berührt mich immer am meisten. Es fällt mir schwer, mir den alternden Dylan in seinem täglichen Leben vorzustellen. Kürzlich scherzte ich, er würde sicherlich nicht mit Schlapfen am Pool sitzen, denn er steht immer noch fast jeden Abend auf der Bühne seiner Never-Ending-Tour. Die Gier aufzutreten, die Befriedigung zu spielen: Bob Dylan war immer ein Live-Musiker. Seine Studioalben, auch wenn es weit über vierzig sind, sind bestenfalls Momentaufnahmen. Im Studio fühlte sich Dylan nie ganz wohl. Seine Kunst ist die Veränderung, das stetige Neu-Erfinden, das schlussendlich in einem Wechsel der Identitäten endet. Wer Dylan 2011 sieht, bekommt kein aufgewärmtes Programm aus 1969, er kriegt Dylan 2011, der mit dem jungen nichts mehr zu tun hat. All das bringt ihn raus aus der Jetzt-Zeit: Dylan macht was er will, die anderen sind ihm egal. Von Dylan darf man sich eigentlich nie eine warme Umarmung oder irgendeine Herzlichkeit wünschen, er ist eben einfach da. Vermutlich würde er auch ohne Publikum live spielen. Schon allein dafür Respekt.

Ich kann mir nicht mal im Ansatz vorstellen, wie es sein muss, Bob Dylan zu sein. Aber ich kann seine Musik zu schätzen wissen, unabhängig davon, ob viele seiner Songs zwanzig Jahre vor meiner Geburt geschrieben wurden. Ich kann mir seine Texte ansehen, mich in ihnen verlieren und verstehen, wie ihre Darbietung die Bedeutung vollends umkrempeln kann. Ich kann mich durch das Dylan-Gesamtwerk ackern und immer wieder etwas Neues finden, einen neuen Song, ein neues Bootleg, eine neue Interpretation. Das ist für mich eine kulturelle Bedeutung, für die es mehr als drei Generationen von Dylan-Fans braucht, um sie zu erfassen. Ein Ende der Dylanologie? Keine Chance. Aber keine Sorge, Dylan ist auch nur ein Wort.

Symposien wie das zuletzt in Wien stattgefundene "Refractions of Bob Dylan" sind wichtige Eckpfeiler, um die verstaubten Gegenstände durch neue zu ersetzen. Im angloamerikanischen Raum ist man uns hier weit voraus: Dort wird schon lange über Dylan, Gaga, Morrissey und die Stones in einem akademischen Kontext diskutiert und nach komplexen Herangehensweisen gesucht, die das Feuilleton nicht mal im Ansatz hinkriegt, weil es dafür schlichtweg nicht das notwendige Know-How hat. Gottseidank finden solche Themen Einzug an der Uni, weil es bei Dylan mehr zu sagen gibt als die ewig alte Leier und weil Dylan aufgrund der enormen kulturellen Bedeutung schon längst seine Berechtigung hat. Die Akademisierung des Pop hat längst begonnen. Nicht, weil es "cool" wäre, ein Seminar über die Neubauten zu besuchen, sondern weil es notwendig ist, dass dieser Bereich unserer Kultur nicht einfach ausgeklammert wird. Solche Zugänge will ich sehen und hören, kein abweisendes Hände-vors-Gesicht. Ich halte es in diesem Sinne mit Martin Blumenau: Die Angst vor der immer wieder notwendigen Reflexion ist mir unverständlich.

An Legenden muss man sich abarbeiten. An lebenden erst recht. Happy Birthday, Bob. Und hoffentlich gehen die Lichter noch lange nicht aus.

I was born here and I’ll die here against my will
I know it looks like I’m moving, but I’m standing still
Every nerve in my body is so vacant and numb
I can’t even remember what it was I came here to get away from
Don’t even hear a murmur of a prayer
It’s not dark yet, but it’s getting there