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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

27. 5. 2011 - 12:27

Mit gebrochenem Hals

Mit zwölf bricht sich Paul Guest sein Genick. "Noch eine Theorie über das Glück" ist aber keine Betroffenheitsliteratur, sondern eine scharfsinnige Erzählung. Empfehlung!

Wie fühlt sich das an, wenn man halsabwärts nichts mehr fühlt? Anfangs zu warm, viel zu warm. Paul Guest weiß es. Der amerikanische Autor, dessen Lyrik mehrfach ausgezeichnet wurde, raste als Bub mit dem BMX in einen Graben. Etwas Nasses lief ihm aus der Nase. Rückenmarks-flüssigkeit. Der Hals ein Elend, der Körper über Wochen über Stangen am Hinterkopf festgeschraubt und der Mensch "ein Ganzes in zwei Teilen, geteilt, aber bei aller Taubheit unentwirrbar". Paul Guest wird körperlich in seine Zukunft geschleudert.

Autor Paul M. Guest

Verlag Antje Kunstmann

Paul M. Guest lebt mit seiner Frau in Atlanta und lehrt an der University of West Georgia.

"Noch eine Theorie über das Glück" ist ein autobiografisches Coming-of-age-Drama. Und alles andere als ein gefühlsduseliger Schicksalsroman. Mit esoterischen Plattitüden kann man Guest jagen. Nicht erst einmal segneten ihn Unbekannte unaufgefordert auf offener Straße, beim Einkaufen, bei zufälligen Begegnungen. Die Heilsversprechen anderer lässt er wissend vorübergehen. Über seinen Kopf hinweg spricht man Fürbitten, wenn er von seinem Rollstuhl aus nicht zu Türöffnern langt:

"Alles an ihr schrie Jesus. Ich kannte den Typ. Wie epileptische Zaunkönige flatterten sie in der Öffentlichkeit umher, flitzten von hier nach da und beteten sich schwindelig."

Diesem Buben will man nicht mehr von der Seite weichen. Will ihn nicht im Auge behalten, sondern mit ihm geradeaus blicken. Am Besten im Krankenhauszimmer und entlang der High-School-Gänge durch seine Augen sehen. Und das gewährt, ja geradezu gönnt einem Guest vom Zeitpunkt des Unfalls an bis hinein in sein Leben als junger Erwachsener. Denn Guest ist ein präziser Erzähler. Mit ein, zwei Sätzen charakterisiert der Amerikaner Personen, als würde man ihnen gegenüberstehen, Billy Stevens etwa, einem "Frechdachs, schlagfertig, arm. Er saß in Mathe neben mir, beschoss andere mit Papierkügelchen, zeigte gern seine Geringschätzung". Wie dessen kichernder Anruf, um Besserungswünsche auszusprechen, den zwölfjährigen Paul erfreut, genießt man als LeserIn diese Begegnungen und Beobachtungen. Und den Witz, der Guests Schilderungen innewohnt.

Diagnose: Kluger Kopf

Hineinlesen in die ersten 25 Seiten von "Noch eine Theorie über das Glück".

Tragisch-komisch und bei all den erzählten Extremen in keiner Passage strapaziös, verweigert Guest kaum eine Antwort. Mit Paul durchlebt man Genesungsstationen und Aufklärungsarbeit, hart an der Schmerzgrenze. Etwa, wenn in Filmen, die den LangzeitpatientInnen vorgeführt werden, das Organsystem mehrfach versagt: "In einem tollte ein armer Schauspieler im Blasenkostüm, mit den Beinen als Harnleitern, herum. In einem anderen wurde der lange Strang der Eingeweide von einer traurigen Kolonne dargestellt, die in einem darmartigen Stoffschlauch geschlüpft war und und die Rhythmen unseres gestörten, durcheinandergeratenen Verdauungssystems vortanzte."

Fulminant gestalten sich die Erinnerungen. Spannung baut sich auf in einem Alltag, der bis in die intimste Privatsphäre nur mit fremder Unterstützung bewältigt werden kann. Pfleger, die sich selbst "Mama" nennen, wenn sie Paul auf Händen ins Bett tragen, und die dasselbe Bad und WC benutzen. Stützlehrerinnen, die keinen Plan von Rechtschreibung haben. Der junge Paul wird an die Grenzen des Zumutbaren gestoßen, doch der erwachsene Paul weiß haargenau, wieviele dieser Momente einer unerfahrenen Leserschaft zugemutet werden wollen. Die armen Hascherl, das sind doch vielfach jene, die ihr eigenes Elend als Mitleid über ihn ergießen möchten - ob unbewusst oder bewusst. Guest macht einem das klar, ohne es auszusprechen.

Chronologisch führt Pauls Erzählung über Krankenhausgänge, die "nach Zeitlichkeit rochen", ins Spitalsbett mit dem Blick gegen "gesichtslose Zimmerdecken" gerichtet, weiter in die Reha-Klinik und zurück ins enge Elternhaus, das nicht für einen Rollstuhl gebaut ist. Und in dem der kleine Bruder nach einem Fernsehabend jede Nacht in seinem alten Zimmer neben dem nun behinderten Paul im Spitalsbett verbringt. Dasselbe Spitalsbett rollt man zehn Jahre später in Pauls erste eigene Wohnung, vis-à-vis der Universität, in einem anderen Bundesstaat. Beim ersten Sex landet er mit einer Freundin auf der Couch.

Buchcover mit Schriftzug

Verlag Antje Kunstmann

"Noch eine Theorie über das Glück" von Paul Guest ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Geglückt ist auch die Übersetzung aus dem Englischen von Malte Krutzsch.

Jedes kleine Glück

Die Konsequenzen, die mit der Diagnose "querschnittsgelähmt" augenblicklich zum Ist-Zustand werden, spart Guest nicht aus, sie rücken jedoch zunehmend in den Hintergrund. Mit der Neugier eines Unfallpatienten taucht man ein in ein Leben, das Glücksmomente kennt wie jedes. An diesen Punkten geht Guests Theorie vom Glück auf - dabei hat sie der Autor mit keinem einzigen Satz explizit formuliert. Wenn die Studienkollegin beim Lernen auf einmal die Augen schließt und still auf einen Kuss wartet. Oder Paul sich am Heimweg von einer Autorenlesung denkt: "Wenn wir keine Freunde werden, geh ich ein". Und schließlich gemeinsam die ersten Manuskripte verschickt. Dann wird klar, dass die Sache mit dem kleinen Glück eine ganz große ist.

Weitere Leseempfehlungen:
fm4.orf.at/buch

Paul Guests Buch legt man nicht beiseite, man inhaliert es wie Meeresluft in großen Zügen.176 Seiten verfliegen viel zu schnell. Und nachdem ich "Noch eine Theorie über das Glück" zugeklappt habe, habe ich nach Guests Lyrik gesucht. Und "My Index of Slightly Horrifying Knowledge" gefunden. Der Mann kann schreiben.