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Hanna Silbermayr

Lateinamerika, Migration, Grenzen und globale Ungleichheiten

23. 5. 2011 - 13:17

¡Democracia Real, YA!

"Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden", tönt es aus allen Ecken. Die freie Journalistin Hanna Silbermayr berichtet aus Madrid.

Hanna Silbermayr

Hanna Silbermayr

von Hanna Silbermayr, freie Text- und Fotojournalistin. Sie bloggt auf nonapartofthegame.eu

„Es gibt nur zwei Parteien, die es immer ins Parlament schaffen können, das ist ja fast schon eine Diktatur!“ Der ältere Herr steht inmitten unzähliger Plakate, die eine echte Demokratie fordern. Er selbst war Politiker, hat sich aber inzwischen in den Ruhestand zurückgezogen. „Früher war es besser, da konnte man noch etwas verändern.“

Die Plaza Puerta del Sol ist gesteckt voll, es ist heiß und trotzdem strömen immer mehr Menschen auf den Platz mitten im Zentrum von Madrid. Es ist Wahlsonntag, aber viele der Spanier werden sich heute, so vermutet man auf der Plaza, ihrer Stimme enthalten. Der Unmut in der Bevölkerung ist groß und das Land erlebt dieser Tage einen der größten Proteste seit dem Ende der Franco-Diktatur.

alter Mann diskutiert

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Der 77-jährige Amalio ist sich sicher: „Die Politiker haben viele Privilegien. Sie arbeiten wenig und bekommen hohe Pensionen, ein Arbeiter aber schuftet sein ganzes Leben und für ihn ist danach fast gar nichts mehr übrig.“ Aus Solidarität gegenüber all den Benachteiligten der Gesellschaft sei er auf den Platz gekommen. Und weil auch ihm selbst nur eine sehr kleine Pension blieb. Erst im Januar wurde der Plan zu einer neuerlichen Pensionsreform vorgelegt, nach welchem etwa das Pensionsantrittsalter von 65 auf 67 Jahre angehoben werden soll.

Demonstrierende

Hanna Silbermayr

Doch dies ist nicht das Einzige, das die Menschen auf die Straßen treibt. Vor allem die hohe Arbeitslosenrate, die im letzten Jahr 20% betrug und bei den unter 25-Jährigen nahezu bei 45% lag, macht die Spanier wütend. In der Bevölkerung herrscht Perspektivenlosigkeit, vor allem nach der Wirtschafts- und Finanzkrise, die das einstige Vorzeigeland der EU stark in Mitleidenschaft gezogen hat, sieht die Zukunft nicht wirklich rosig aus. Immobilien-Spekulationen haben Spanien in den Ruin getrieben. Schuld daran, so glauben die Menschen auf der Plaza Puerta del Sol, sind die Bankiers und Politiker. Allein auf den Listen der heutigen Kommunal- und Regionalwahlen stehen hunderte Politiker, die der Korruption angeklagt oder bereits verurteilt wurden.

Kritik übt man vor allem am herrschenden System, dieses hätte seine demokratischen Grundfesten längst verloren, und kleinere Parteien hätten nicht die geringste Chance, ins Parlament einzuziehen. „¡Democracia Real, YA! - Echte Demokratie, JETZT!“ steht auf den Pappkartons der Protestierenden, oder auch „Es gibt eine Zukunft, aber nur wenn wir dafür kämpfen.“

Demonstrierende mit Schildern

Hanna Silbermayr

Die spanische Revolution

Seit sieben Tagen halten die Protestierenden die Puerta del Sol inzwischen besetzt. Angefangen hatte alles mit Großdemonstrationen in ganz Spanien, die auf die Missstände im Land aufmerksam machen sollten und in der Besetzung der Plätze endeten. Zuerst wurde versucht, diese aufzulösen, doch das motivierte nur noch mehr Menschen, sich dem Protest anzuschließen. Inzwischen hat er sich organisiert: Überall auf der Plaza Puerta del Sol stehen Zelte, unter den blauen Plastikplanen hat sich so etwas wie ein kleines Dorf gebildet. Es gibt etwa eine Krankenstation, eine Kinderzone, eine kleine Bibliothek, eine Müllsammelstelle und einen Putztrupp. „Es geht um die Gemeinschaft und die kollektive Verantwortung“, erklärt der Student Noel die Situation: „Das sind Eigenschaften, die wir in dieser kapitaldominierten Welt beinahe verlernt haben.“

Zeltstadt

Hanna Silbermayr

Die spanische Revolution, wie der Protest inzwischen genannt wird, soll dies jetzt ändern. Am Abend, wenn der Platz am vollsten ist, wird dieser Zusammenhalt hörbar. „El pueblo unido, jamás será vencido – Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“, tönt es aus allen Ecken. Diese Phrase stammt aus einem Lied, das während der Pinochet-Diktatur in Chile zum Symbol für den Widerstand gegen Pinocheta Alleinherrschaft wurde. Noel ist sich sicher, dass diese Worte auch in Spanien ihre Gültigkeit haben: „Man sagt uns zwar, das hier wäre eine Demokratie, aber in Wahrheit leben wir in einer Wirtschaftsdiktatur. Die Politiker fühlen sich dem Volk nicht mehr verpflichtet, es ist der Kapitalismus, der den Ton angibt.“

Demonstrant liegt auf der Straße

Hanna Silbermayr

Der Protest selbst bedeutet Basisdemokratie, jeder kann sich einbringen und mitbestimmen. Und so vielfältig, wie die Inhalte der Revolution sind, so bunt auch die Menschen, die sie mittragen. Sie beschränkt sich nicht - so wie in vielen Medien dargestellt - auf eine bestimmte politische Gruppe und es ist auch nicht nur die Jugend, die sich engagiert. Auffallend ist, dass der Platz frei von Parteien, Gewerkschaften oder NGOs ist. „Wir gehören keiner Organisation, hier manipuliert uns niemand, hier regiert das Volk“, tönt es immer wieder aus den Lautsprechern. Es sind einfach alle da: junge, alte, politische und unpolitische Menschen, einfach nur, um endlich dem Ausdruck zu verleihen, was schon so lang unter den Nägeln brennt.

Kätzchen in Zeltstadt

Hanna Silbermayr

Und die Zukunft?

So genau weiß niemand auf dem Platz Puerta del Sol, wie es weitergehen wird. Tatsache ist, dass die Kommunal- und Regionalwahlen für die Partei des amtierenden Präsidenten Zapatero, die Sozialistische Arbeiterpartei, desaströs ausgegangen sind und die spanische Volkspartei von nun an das Ruder übernehmen wird. Aber im Grunde ist egal, wer an den Machthebeln sitzt. „Cambia de tendero pero no de ladrón – Es ändert sich der Besitzer, nicht aber der Dieb“, sagt der alte Amalio. Dennoch glaubt er, dass es immer wieder Proteste geben wird, bis den Politikern keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als sich dem Druck der Straße zu beugen. Noel sieht es ähnlich. Mit der Zeit würde sich der Zorn der Bevölkerung so sehr aufschaukeln, dass die Volksvertreter ihrer Berufsbezeichnung einfach gerecht werden müssen. An diesem Wahlsonntag geht die Sonne zum siebenten Mal über den Protestierenden der Puerta del Sol unter. Wie oft noch, das steht in den Sternen.