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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

20. 5. 2011 - 16:28

Zweckfreundschaft

Luftschlösser, Beziehungen und Identitätsfindung in Berlin. Hannes Köhlers Debütroman "In Spuren".

Berlin übt eine unwahrscheinlich große Anziehungskraft aus, vor allem auf jene, denen es in der Provinz zu eng wird, und die von der großen Karriere in der Weltstadt träumen, auf Menschen wie Felix und Jakob. Seit ihrer Kindheit sind sie beste Freunde und so verwundert es nicht, dass sie sich gemeinsam entschließen, nach Berlin zu gehen. Dort machen sie eine Kneipe zu ihrem Fixpunkt und malen sich am Tresen eine goldene Zukunft aus, bis zu dem Zeitpunkt, als Felix plötzlich verschwindet.

Buchcover Hannes Köhler "In Spuren"; in gelbtönen, rechts sehr hell

mairisch-Verlag

"In Spuren" von Hannes Köhler ist im mairisch Verlag erschienen

Nach dem Zigarettenholen kommt Felix einfach nicht mehr zurück. Auf der Toilette findet Jakob noch sein T-Shirt, sonst nichts. Er erreicht ihn weder am Handy noch zu Hause, und auch in den nächsten Tagen gibt Felix kein Lebenszeichen von sich. Jakob beginnt seine Spurensuche mit Zweifeln.

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"Ein bester Freund wüsste, wohin er verschwunden ist." Jakob muss bei seinen Nachforschungen feststellen, dass er in letzter Zeit den Anschluss an Felix verloren hat. In dessen Wohnung, zu der er sich Zutritt verschafft hat, wird er mit einigen Überraschungen konfrontiert. Im Schrank des überzeugten Jeans-Trägers hängen fein geordnet Anzüge, am Schreibtisch steht ein nagelneuer PC, in seinen Unterlagen findet er Bewerbungsschreiben an Consulting-Firmen. Pläne für eine Zukunft, in die ihn der Freund nicht eingeweiht hat. Nicht einmal von der schweren Herzerkrankung Felix' hatte er etwas gewusst.

Jakob überschreitet ständig neue Grenzen. Er öffnet Felix‘ Post und durchsucht seinen Computer, am meisten Anziehungskraft geht aber von Felix‘ Tagebuch aus. Dort liest Jakob über sich selbst, aus Felix‘ Perspektive und muss erkennen, dass ihn sein Freund als Schaumschläger, als Träumer und Versager gesehen hat. Jakob war ihm lästig, seine Sätze empfand er als linkisch, ihre Beziehung nur mehr als Zweckfreundschaft.
Hannes Köhler strukturiert seinen Roman über Felix' Tagebucheinträge, die von Rückblicken Jakobs auf deren gemeinsame Vergangenheit ergänzt werden, und die zu Reflexionen über seine Identität führen. Die wirken sich wiederum in der Gegenwart aus. Jakob beginnt an seinem Bürojob zu zweifeln, an seiner Beziehung, an seinem Leben. Alles ist nur auf Sicherheit und auf Bequemlichkeit ausgelegt, und Jakob ist zu feige, zu tun, was Felix gerade getan hat, alles hinzuschmeißen.

Ich wär so gern wie du

Jakob beginnt immer mehr in Felix' Leben zu schlüpfen. Er nistet sich in dessen Wohnung ein, isst von seinen Tellern, trägt seine T-Shirts, übernachtet in seinem Bett. Sogar Felix' Freundin, die er früher immer verachtet hat, ist ihm nicht mehr fremd. „Du musst aufpassen, sagt eine Stimme im Halbschlaf, du musst aufpassen, dich nicht zu verlieren. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wen ich da eigentlich verlieren soll.“ Doch andere wissen es, Sarah, seine Freundin, oder die "Kneipenphilosophen". Sie versuchen zu intervenieren.

Hannes Köhler vor einer Betonsäule, rechts Himmel

Florian Mey

Hannes Köhler / Foto: Florian Mey

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Hannes Köhler verhandelt in seinem Debütroman gleich mehrere große Themen, die Schwierigkeiten einer Freundschaft, die Arbeit und Zeit, die man in Freundschaften investieren muss, das Erwachsen- und Selbständigwerden, Beziehungen, Berlin als Projektion für Träume aller Art, vor allem aber Identität. Da verzeiht man Köhler die kleinen Längen zu Beginn des Romans und auch die leicht antiquierten Tagebucheinträge, die ob ihrer Adressiertheit, Komponiertheit und ihrem hohen Reflexionsgrad künstlich wirken. Hannes Köhler hat mit „In Spuren“ ein abwechslungsreiches Debüt abgeliefert, das durchaus auch zur Selbstreflexion anregt.