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Pia Reiser

Filmflimmern

16. 5. 2011 - 10:51

Try to be Mensch

Ein Film, für den man neue Adjektive bräuchte: "Never let me go" ist atembewerfend, umraubend, sensatioartig und einzigionell.

Carey Mulligan und Keira Knightley mit leicht zerzausten Haaren und zauberhaften Stirnfransen sitzen neben Andrew Garfield auf der Bank eines Diners. Ihre Blicke sind leicht verwundert, verstört fragend, offensichtlich auf das nicht im Bild befindliche Gegenüber gerichtet. Das wars dann auch schon. Es war - wie so oft - nur ein Bild, das mir vor ein paar Monaten ins Auge gefallen, in den Kopf gesprungen ist und sich festgehakt hat. Nicht nur, weil mich das Bild faszinierte, sondern auch, weil der kurze Text, der dabeistand, so gar nicht dazuzupassen schien. Wie um alles in der Welt sollte das Wort "Klone" in eine Beschreibung dieses Films zu passen?

Carey Mulligan, Keira Knightley und Andrew Garfield nebeneinander in einem Diner sitzend, Szenenbild aus "Never let me go"

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Der Roman "Never let me go" von Kazuo Ishiguro ("Was vom Tage übrig blieb"), der 2005 erschien und vom Time Magazine gleich mal superlativeschleudernd mit "Best Novel of the Decade" gekrönt wurde, vermeidet dieses Wort - Klon - lange, zögert es hinaus, kreiert eine bedrohliche Atmosphäre, die die drei Hauptfiguren - die nachnamelosen Cathy, Ruth und Tommy - umgibt, ohne, dass man weiß, woher die Bedrohung ausgeht. Mark Romaneks Verfilmung dieses Romans, die in enger Zusammenarbeit mit Ishiguro realisiert wurde, stellt das gleich am Anfang klar (und für alle, die da im Kinosaal noch Handys ausschalten, einen Witz fertig erzählen oder noch über den davor gelaufenen Trailer lachen), wird es in der 22. Minute ausgesprochen: Die drei Erwachsenen, mit denen wir es in "Never let me go" ("Alles was wir geben mussten") zu tun haben, sind Klone. Werden erzogen in Hailsham, einem altehrwürdigen Internat, Ziegelbau und dunkles Holz, weitläufige Gärten und eine respekteinflößende Aula, in der die nicht minder respekteinflößende Charlotte Rampling als Schulleiterin Miss Emily Reden schwingt.

Charlotte Rampling neben einem Rednerpult, Szenenbild aus "Never let me go"

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Die grausame Wahrheit

Die Kinder tragen Schuluniformen, die nach den 1960er Jahren ausschauen, aber auch Bändchen am Arm, die sie immer wieder an digitale Lesegeräte halten. Sci Fi goes Retro und umgekehrt. Diese Kinder wurden nur zu dem Zweck erschaffen, ihre Organe zu spenden. Denn, so lautet der große Unterschied zu den 60er und 70er Jahren, wie wir sie kennen, 1952 gelang ein medizinischer Triumph, Menschen können nun weit über 100 Jahre alt werden. So ein Triumph kommt nicht ohne hohen Preis und Schattenseiten.

"None of you will go to America. None of you will work in supermarkets. None of you will do anything, except live the life that has already been set out for you.", konfrontiert Sally Hawkins als Miss Lucy die Klasse mit der entsetzlichen Wahrheit, um die ansonsten in Hailsham wie um den heißen Brei herumgeschlichen wurde. Die Kinder starren verstört vor sich hin, der Wind weht Blätter vom Tisch der Lehrerin und Tommy steht auf, um sie aufzuheben. Klon oder nicht, unausweichliches Schicksal hin oder her: etwas ist auf den Boden gefallen und muss eben aufgehoben werden. Das Leben geht immer weiter.

Mädchen an einem Essenstisch, Szenenbild aus "Never let me go"

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Die Verstörung darüber, dass einem ein Science-Fiction-Aspekt in einem Film begegnet, der so gar nicht dem Genre entsprechend aussieht, wird noch mehr dadurch verstärkt, dass sich der Film auch gar nicht um Bio-Ethik, Gentechnik oder -manipulation dreht. Er verwendet die Klone auch nicht für eine Metapher über Zwei-Klassen-Gesellschaften oder ausbeuterische Systeme. "Never let me go" ist keine dystopische Science Fiction Parabel, die nach den Genrekonventionen des Sci Fi tanzt, der Film nutzt den futuristisch anmutenden Aspekt bloß als Krücke. Um uns eine Geschichte zu erzählen, die weitaus älter ist als Schaf Dolly. Die Geschichte handelt, so simpel ist es und so patschert klingt es, vom Mensch-Sein und dem Wissen um die Endlichkeit: Damit wollten sich schon unendlich viele Filme auseinandersetzen, doch "Never let me go" betritt visuell, erzählerisch und atmosphärisch Neuland.

Zwei junge Frauen und ein junger Mann an einem Steinstrand sitzend, Szenenbild aus "Never let me go"

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Hold me ... and never let me go

Sehr interessant: Die Review im "Guardian", die in "Never let me go" folgendes sieht: "a dreamlike parable of Britishness – a particularly miserable Britishness, a Britishness which submits numbly and uncomplainingly to authority, a pinched Britishness which has an unshakable loyalty to unhappiness (...)"

Die Tränendrüse bleibt vom Film unangetastet, die Tränen, die ich vergossen habe, kamen nicht von der üblichen gefühlsduseligen Bild/Musik-Manipulation, der ich immer auf den Leim gehe. "Never let me go" hat mich tatsächlich erwischt, im Herz und im Kopf und das, obwohl Romaneks Erzählton und Inszenierung kühl bleibt. Nicht zufällig eröffnet den Film eine Szene in einem Krankenhaus, einem Operationsaal. Schläuche, Lampen, medizinische Instrumente. Kühler und aseptischer gehts nicht, das färbt auch auf die nachfolgenden Bilder ab. Die distanzierte Erzählweise steht in Kontrast zu den großen, leidenschaftlichen Themen, denen sich der Film annimmt. Er packt einen am Schlawittl und konfrontiert einen damit, wie man sich mit Gegebenheiten abfindet, sich in einem Trott wiederfindet, noch ehe man "Ich mach das mal alles anders" fertig gemurmelt hat. Es geht die alte Mär von der zermürbenden Mühle der Realitäten und des Alltags, der nicht wegzuleugnenden Kürze des Lebens und wie man sich mit etwas, mit dem man sich abfinden muss, das aber so himmelschreiend unabfindbar zu sein scheint, auseinandersetzt.

Time is so not on your side

Man braucht Eskapismus-Szenarien, Rettungsringe und zu umklammernde Strohhalme. Hoffnung, zum Beispiel. Die Hoffnung, mit der sich Tommy an eine Möglichkeit des Hinauszögerns weiterer Organspenden klammert, ist doppelt schmerzhaft, weil der fantastische Andrew Garfield seinen Charakter mit einer Unschuld ausstattet, die mit Verletzlichkeit gleichzusetzen ist. Die Zeichnungen, die Tommy als Kind und junger Erwachsener anfertigt, sind Teil dieser Hoffnung, Teil des Menschseins und Teil eines möglichen, temporären Ausbruchs aus dem unvermeidlichen Schicksal. Es ist die lebenbereichernde und lebensrettende Kunst - egal ob deren Erschaffung oder Konsumation. Für Tommy ist es eben das Zeichnen - Romanek zeigt ihn am Boden sitzend, die Füße im Schneidersitz und in sein Werk vertieft mit einer Konzentration, wie sie oft nur Kinder haben. Für Kathy (Carey Mulligan) wird es als Kind ein Song sein, an den sie sich klammert, auf ihrem Bett in einem leeren Internatsschlafsaal sitzend hört sie das herzrerreißende "Never let me go".
Das ist ein Hakenschlagen vor der Realität und ein Zeitanhalten, das steht aber auch für die immense Bedeutung von Kunst, Kultur und Popkultur im Leben, das sind große Gefühle, Überhöhung, Begeisterungen, Hysterie, Exstase, etwas, das das "echte" Leben vielleicht manchmal vermissen lässt.

Junge Frau durch hohes Gras gehend, Szenenbild aus "Never let me go"

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Rebellion oder die popkulturell so oft - gerade von jungen Menschen - eingeforderte rage against the machine gibt es in "Never let me go" nicht. Ruth, Cathy und Tommy fügen sich dem ihnen zugewiesenen Schicksal, dem raffinierten Drehbuch Alex Garlands und Romaneks Regie ist es zu verdanken, dass man nicht dauernd den Gedanken hegt, warum die Drei nicht einfach davonlaufen. So wie Ruth, Cathy und Tommy ihrer Aufgabe, fügt man sich der Welt des Films. So gefasst wie die Charaktere, ist der ganze Film. Aus dieser Gefasstheit erlaubt sich "Never let me go" nur zweimal einen Ausbruch, lässt Keira Knightley ein unendlich wütendes "We are modeled on trash" dem Meer und Carey Mulligan entgegenschreien und lässt Andrew Garfield des Nächtens zusammenbrechen. Wie Garfield diesen Bogen von Hoffnung über Enttäuschung und schließlich herzrausreißende Verzweiflung schafft, zeigt erneut, was für ein unglaublich grandioser Schauspieler er ist. Zu diesem Zeitpunkt sieht man auf der Leinwand die eigenen Gefühle, die der Film in einem weckt, gespiegelt: Trauer, Verzweiflung und Wut.

Zwei junge Frauen in einer Küche, Szenenbild aus "Never let me go"

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Nostalgia is a weapon

Kathys Kaninchenhöhle in eine andere Welt als Erwachsene ist schließlich die Erinnerung. Sehnsucht nach vergangenen Tagen, in denen noch alles in Ordnung zu sein schien; Nostalgie als Realitätsflucht funktioniert so sicher wie Kindchenschema, das weiß jeder, der schon mal in eine Gesprächsrunde von 25-35jährigen "Spatzenpost", "Biene Maja" oder "Dreh und Drink" eingeworfen hat. Der Eskapismus ist kurz, aber umso süßer und wonniger; wenn die Gegenwart zu grausam ist, kann man sich in der wohligen Umarmung der Vergangenheit wiegen.
Ruth schließlich sieht in einer Beziehung, in Liebe und Sex eine Möglichkeit des Glücks. Die drei Kinder, die einander in Freundschaft verbunden sind, sind es als Erwachsene durch ein tragisches Liebesdreieck.

  • "Never let me go" läuft seit 13. Mai 2011 in Wien und Graz; weitere Bundeshauptstäde sollen folgen

Die verstörende und mitreißende Diskrepanz aus den schwebend schönen, verwaschenen Bildern und der grausamen Geschichte macht aus "Never let me go" einen einzigartigen und außergewöhnlichen Film. Auf Genrekonventionen kann man sich hier nicht verlassen und die Bild/Text-Schere schneidet einem ins Herz. Die Berechnung, die Kühle und die Grausamkeit kommen zu so schrecklichem Erblühen, weil die Welt, die uns präsentiert wird, eben keine aseptische Hi-Tech-Hochburg ist. Mit großartiger Ausstattung und einer raffinierten Kostümwahl wird eine Welt erschaffen, die gleichzeitig Retro und Zeitlosigkeit verkörpert. Raffiniert setzt der Film somit visuell eine Welt um, die wir, weil sie in der Vergangenheit liegt - zu glauben kennen und in der dennoch soviel anders ist. Die permanente, leichte Verstörung ist eine große Stärke des Films.

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Trügerische Euphemismen

Nach der Zeit im Hailsham Internat begegnen wir Cathy, Tommy und Ruth vowiegend auf Wiesen, in Wäldern und am Meer. Die Natur, die das genaue Gegenteil ihrer Herkunft bedeutet, präsentiert sich von ihrer schönsten Seite, herzt und umweht die "künstlichen" Geschöpfe. Die Schönheit seiner Bilder unterfüttert Romanek dauerhaft mit der unausweichlichen Tatsache des nahenden Endes. Completion nennt man das in "Never let me go", das hat unsere Welt mit dieser gemeinsam, für alles schreckliche und grausame denkt man sich Euphemismen aus, verbale Wattebäusche, die das Leben mit dem Unerträglichen aushaltbar machen sollen. Mark Romanek hat einen sensationellen Film mit ebensolchen Schauspielern und ganz ohne Pathos gemacht, an dem bin nur ich beim Artikelschreiben nicht vorbegekommen. Und jetzt ab mit euch ins Neverletmegoland.