Erstellt am: 14. 5. 2011 - 14:40 Uhr
Die Entschwulung des Song Contests
Heute Abend findet also der 56. Eurovision Song Contest zum ersten Mal nach 28 Jahren wieder in Deutschland statt und Lena, die ein Jahr lang wirklich allen auf die Nerven gegangen war, wird zur Titelverteidigung antreten.
Diese Woche gab es das erste und zweite Halbfinale aus Düsseldorf zu sehen und als alter kritischer Grand Prix D’Eurovision de la Chanson-Fan hatte man sich bang gefragt, ob das deutsche Fernsehen eine Show hinkriegen würde mit der man sich in Europa nicht blamiert. Aber bislang war es gar nicht so schlimm. Stefan Raab hielt sich angenehm zurück, Anke Engelke machte lustige Faxen und parlierte dreisprachig und der riesige LED Screen beeindruckte sowieso alle.
Jedward
Der Schlager-Experte Jan Feddersen hatte darauf hingewiesen, dass Lena und Stefan Raab eigentlich den Schwulen den Song Contest genommen hätten. Der Charme des Uncoolen sei flöten gegangen, "ESC goes Pop", so die traurige Formel. Früher als Grand Prix schauen noch peinlich war, da hätte der bekennende Underground doch hauptsächlich aus schwulen Männern bestanden. Diese Männer hätten Interpreten wie Vicky Leandros, Udo Jürgens, Johnny Logan oder Dana International verehrt, weil sie deren Darstellung von Tragödien und Verhängnissen glaubten, und weil sie Lieder sangen, die nicht dem üblichen "Mann-trifft-Frau"- oder "Girl-betet-Boy-an"-Schema entsprachen.
Schon voriges Jahr nach Lenas erstem Platz in Oslo hatte der Kulturwissenschaftler Johannes Arens von einer "Entschwulung" des ESC gesprochen. In Lena, so Arens, sei nichts mehr, in das sich Männer, die nicht heterosexuell sind, hineinversetzen können. Es seien fahle Mädchenträume, die sie serviere, keine Geschichten von Triumph und Scheitern.
Nun mag sein, dass Lena nicht tragödienfähig ist und früher war natürlich alles noch besser, da waren die Sängerinnen in Vorhänge mit Bordüren gehüllt, es spielte ein Orchester und es musste in der Landessprache gesungen werden. Aber dieses Jahr waren die beiden Halbfinale schon sehr vielversprechend!
Eurovision Song Contest
Es gab bizarre Bühnenbilder - die armenische Sängerin sang aus einem riesigen Boxhandschuh heraus - es gab jede Menge knochige Euro-Trash-Blondinnen, R&B-Imitatorinnen im fließenden Seidenmini mit windmaschinenbewegter Schleppe, Big Hair-Kreationen, Trick-Kleider, eine wallonische Beatbox-Darbietung und russischen Show-Metal. Man sah gestutzte Engelsflügel und zypriotische Diskuswerferinnen, andere ließen Frauen in lila Lackkleidern mit theatralischen Bewegungen live Sandmalereien ausführen, die zeitgleich als Hintergrundbild projiziert wurden.
Jedward
Große Chancen hat Paradise Oskar, die männliche Nicole aus Finnland mit einem Weltverbesserungslied. Die Schweiz, Österreich und Italien sind wieder dabei, Aserbaidschan wird als Favorit gehandelt, und ein irisches Zwillingspärchen in Rot rabaukte wie verzauberte Märchen-Roboter über die Bühne.
Paradise Oskar
So bietet der Song Contest auch heute immer noch sehr viel Schönes, Ergeifendes, Skurilles, an dem sich, wie früher schon, auch Frauen und heterosexuelle Männer mit Geschmack und Campbewußstsein freuen können.