Erstellt am: 15. 5. 2011 - 11:38 Uhr
Müssen alle mit
Die Höflichkeit gebietet es, dass Hüseyin Yilmaz nicht der Eine-Millionste Gastarbeiter wird, den Deutschland offiziell begeistert begrüßt. Kurz nach der Landung lässt der Türke Yilmaz einem Portugiesen fast bittend den Vortritt. Und als der Andere händeschüttelnd von Politikern ins Reporterblitzlicht gezogen wird, schaut sich Hüseyin Yilmaz mit großen Augen um. "Alemanya - Willkommen in Deutschland" ist die fiktive Geschichte eines Mannes und seiner Familie, wie sie sich hunderttausendfach erreignet haben könnte. Und der Fillm ist eine der gelungendsten Komödien im deutschen Kino seit ganz schön langer Zeit.
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Fünfzig Drehbuchversionen hindurch haben Yasmin und Nesrin Şamdereli an "Almanya - Willkommen in Deutschland" gefeilt. Die Schwestern bedienen sich gängiger Klischees, die TürkInnen von Deutschen haben, und drehen damit den Spieß um: Mit den Augen der Zuwanderer erlebt man Integration im Schnelldurchlauf von 1964 bis in die Gegenwart. Dass der Dackel-ist-eine-Riesenratte-Witz kurze Beine hat, ist eine Ausnahme. Die Kommentare zu deutscher Kultur sind Brüller, neben mir bogen sich die SitznachbarInnen links und rechts vor Lachen - und strichen sich gegen Ende verstohlen Tränen aus den Augenwinkeln.
Hinreißend gut und locker ist das Kinodebüt der Schwestern Şamdereli, weil sie eine trickreiche Erzählperspektive wählen und meistern: vom Lieben, Leben und überraschend wenig vom Leiden der einstigen Gastarbeiterfamilie Yilmaz erzählt die Enkelin ihrem sechsjährigen Cousin Cenk. Drei Generationen kommen zusammen, doch der Blick ist konzentriert kindlich.
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Kinder sehen Zustände, wie sie sind. Und sie glauben Erzählungen. Der durchbohrte, ans Kreuz genagelte Mann, von dem die "Ungläubigen" sonntags in der Kirche essen, bereitet ihnen Angst. Die bartlosen Gesichter der deutschen Männer begeistern sie wie die Müllmänner und Weihnachten. Das christliche Fest will jedoch zuerst der Mutter erklärt werden. Der Humor der Filmemacherinnen setzt bei ihren eigenen Kindheitserfahrungen an und ist mit kleinen visuellen Einfällen geschmückt, die ins Fantastische langen.
Selbst Enkelinnen eines türkischen Gastarbeiterpaares und in Dortmund zur Welt gekommen, haben Yasemin und Nesrin Şamdereli als Erwachsene bemerkt, dass sie Leute mit ihren Erzählungen aus ihrer Kindheit fabelhaft unterhalten können. Deutsch-türkische Beziehungen verhandelten sie bereits im Fernsehen mit dem Spielfilm "Alles getürkt!" und als Autorinnen der Serie "Türkisch für Anfänger".
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Mit Archivbildern der ersten Gastarbeiter in Deutschland, des Rufs der Politiker nach ihnen und von Autokolonnen der sogenannten Gastarbeiterroute entlang verankert die Regisseurin Yasemin Şamdereli die Familiengeschichte. Über zeitgeschichtliche Aufnahmen schlüpft man in "Alemanya" in die Vergangenheit von Opa und Oma Yilmaz und macht den Einbürgerungsprozess in Rückblenden mit. Als der Opa in den ersten Rückblenden Türkisch spricht, fordert der sechsjährige Cenk Deutsch als Sprache ein - wohl ganz im Sinne des Kinopublikums. Und als hätte jemand den Umschaltknopf gedrückt, sprechen die SchauspielerInnen Deutsch. Es sind diese kleinen Details, die den Film liebenswert-vergnüglich machen.
Zurück in der Gegenwart ersehnt die Großmutter den Tag, an dem sie ihren deutschen Pass in Händen hält und endlich Deutsche ist. Während der Großvater alpträumt, wie der zuständige Beamte ihm Schweinsbraten auftischt und Oma Fatma im Dirndl kräftig zulangt. Heimlich hat Opa Hüseyin ein Haus in der Türkei gekauft und eröffnet im Kreise der versammelten Kinder und Enkel, dass sie alle sich diesen Sommer nach Anatolien aufmachen werden.
"Is doch super!", freut sich die Ehefrau des jüngsten Sohnes, Cenks blonde Mama. "Ach nee", tönt es aus der gebürtig-türkischen Sofaecke. Nicht nach Anatolien, das auf der Europakarte in Cenks Grundschulklassenzimmer gar nicht existiert, weil die Karte knapp hinter Istanbul aufhört. Wie einfach EU-Erweiterung funktioniert, zeigt Cenk seiner Lehrerin am Ende des Films.
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"Wollen wir mit 'nem Lkw runterfahren?!"
"Alemanya - Willkommen in Deutschland" läuft seit Freitag in den österreichischen Kinos. Wieder mal Zeit, Vergnügen mit "Leitkulturen" zu haben.
Doch das Patriarchat hat gesprochen und der Kleinbus rollt. Auch die Erzählerin, die uns Kinopublikum und ihrem Cousin Cenk die Familiengeschichte näherbringt, ist mit an Bord und in anderen Umständen. Anfang Zwanzig, in Deutschland geboren und aufgewachsen und insgeheim schwanger und zwar nicht von einem Türken, wird einem nicht vom Busfahren schlecht.
Drei Generationen fängt das Drehbuch-Duo in kurzen Dialogen ein, die Identitätsfrage stellt sich jedoch nur für den kleinen Cenk: "Sind wir nun Türken oder Deutsche?" Die deutsche Mama und der Papa, auch geboren in Deutschland und somit "der erste Deutsche" der Familie, antworten gleichzeitig: "Türken!" - "Deutsche!". Eine unbefriedigende Antwort für Cenk: "Entweder die eine Mannschaft oder die andere!" Denn beim Fußballspielen wollen ihn weder seine deutschen Mitschüler noch seine türkischen wählen.