Erstellt am: 10. 5. 2011 - 12:01 Uhr
Zeitoun
Am Anfang ist es nur ein harmloses Unwetter. Eines, wie man es in New Orleans öfters mal erlebt. In den Nachrichten heißt es, der Sturm, der vom Golf von Mexiko Richtung New Orleans zieht, sei "Kategorie 1". Eine Bagatelle also. Einige Vorkehrungen werden zur Sicherheit trotzdem getroffen: Fenster werden mit Brettern vernagelt, Autos falls möglich in der Garage geparkt, und es werden Kerzen und Vorräte gekauft. Immer noch kein Grund zur Panik. Doch in den Nachrichten wird der Sturm stündlich um eine Kategorie höher gestuft, bis er schließlich Stufe 5 erreicht.
Inzwischen hat das anfangs kleine Lüftchen sogar einen Namen: Katrina.
Amerikanischer Traum
Kiepenheuer & Witsch
Die Geschichte beginnt im Jahr 2005, zwei Tage bevor Katrina auf die Küste von Louisiana trifft. Wir erleben die langsam wachsende Unruhe in New Orleans aus den Augen des Bauunternehmers Abdulrahman Zeitoun. Zeitoun ist ein syrischer Einwanderer und lebt den amerikanischen Traum. Sein Bauunternehmen floriert in New Orleans und Umgebung, seine Frau Kathy und die beiden bezaubernden Töchter helfen mit, wo es nur geht. Ihr hektisches Alltagsleben als Selbstständige wird nur marginal von der Sturmwarnung unterbrochen. In immer kürzeren Abständen belauschen wir Telefonate zwischen Zeitoun und Kathy, in denen die Sturmlage besprochen wird: Kathy hätte schon längst die Stadt verlassen, Zeitoun ist hartnäckig. Bis er dann doch nachgibt, als im Radio vom schlimmsten Sturm gesprochen wird, den New Orleans je erlebt hat. Dieser nähert sich der Stadt wie eine wirbelnde Kreissäge, bereit, sie mit seinem gewaltigen Sägeblatt vollends in kleine Stücke zu zerschneiden.
Kathy und die Kinder flüchten zu Freunden nach Arizona, Zeitoun bleibt allein zurück. Er ist ein bäriger Typ, ein Sturkopf, ein kleiner Abenteurer. Es steht keinen Moment zur Debatte, sein Haus, sein Unternehmen, all das, was er sich mühevoll aufgebaut hat, einfach zurückzulassen. Er verbarrikadiert sich im Haus, doch der Sturm und insbesondere die Überflutung werden immer gewaltiger. Zeitoun baut sich ein Kanu aus Aluminium und paddelt damit durch die Nachbarschaft. Er wird zum einsamen Samariter, rettet Rentner vorm Ertrinken und zurückgelassene Hunde vorm Verhungern. Das Ganze wirkt wie ein Albtraum, die Hoffnung richtet sich nach Washington. Wann schickt die US-Regierung Hilfe?
flickr.com/Rphotos2008
Amerikanischer Albtraum
Die persönlichen Katastrophen sind immer die schlimmsten. Zeitoun hat inzwischen einige seiner Freunde gefunden, gemeinsam paddeln sie durch die Ruinen, schon jetzt mit dem Gedanken des Wiederaufbaus im Kopf. Der Kontakt zu Kathy in Arizona ist unterbrochen, New Orleans ist vom Rest der Welt abgeschnitten. Noch immer wartet die Stadt vergeblich auf die Hilfe aus Washington, man klettert auf die Dächer der Häuser, die immer mehr in den Fluten zu versinken drohen.
Bis die US-Regierung dann doch noch kommt. Zwei Männer mit kugelsicheren Westen packen Zeitoun bei einer seiner Kontrollfahren und drücken ihn brutal zu Boden. Sein Gesicht wird ins nasse Gras gepresst. Er spürt ein Knie im Rücken. Die Arme werden ihm nach hinten gerissen und die Hände mit Plastikhandschellen gefesselt. Die ganze Zeit über bellen Männer Befehle, er solle sich nicht rühren und liegen bleiben. Gemeinsam mit seinen Freunden wird Zeitoun in ein Gefangenenlager gebracht, wo er gefoltert wird. Zeitoun wird für einen Terroristen gehalten.
The Zeitoun Foundation
Katastrophen ohne Ende
Dave Eggers' Roman "Zeitoun" ist ein Stoff, der bei seiner Veröffentlichung zu Recht für Empörung sorgt. Wie kann es sein, dass mitten in einer humanitären Katastrophe, die eigentlich im Mittelpunkt des Fokus stehen sollte, Menschen mit schwer auszusprechenden Namen und fremdländischen Aussehen für Terroristen gehalten werden? Dave Eggers Text ist ein Tatsachenbericht, die Figur des Abdulrahman Zeitoun basiert auf der echten Person. In mühsamer Kleinarbeit recherchiert Eggers das Leben der Familie Zeitoun, das Buch wird immer wieder durch Fotos und Interviews ergänzt. Das Leben des syrisch-amerikanischen Handwerkers, der in einer humanitären Katastrophe als Terrorist eingekerkert wird, fasziniert den Autor Eggers auf Anhieb.
Dave Eggers
Eggers schildert gleich zwei Katastrophen: einerseits den Hurrikan, der den Südosten der USA dem Erdboden gleichmacht und rund 1.800 Menschen das Leben kostet. Eggers beschreibt diese Katastrophe allerdings auffällig unaufgeregt, sein New Orleans ist kein panischer Ort vor dem Armageddon, sondern eine ruhige Wasserlandschaft, in der man außer dem Vogelzwitschern und dem Plätschern der Fluten nichts hört. Ein böser Seitenhieb auf die Bush-Administration, die die Opfer mehrere Tage warten lässt, bis sie endlich Hubschrauber und Hilfe schickt. Im Moment erleben wir ein ähnliches Schreckensszenario in Mississippi und Louisiana, wo sich bereits Tausende gegen erneute Wassermassen rüsten. Die Person Zeitoun ist in Eggers Roman der tapfere Mensch, der sein Haus immer wieder aufs Neue aufbauen will, wohlwissend, dass die nächste Flut, der nächste Weltuntergang, bestimmt kommt.
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Zum anderen beschreibt Eggers die kollektive Terrorangst nach 9/11 mit einer kleinen Familiengeschichte und zwar dort, wo man sie nicht erwartet. Eggers reiht die Tatsachen sorgfältig zusammen, nichts davon ähnelt seinem Erolgsroman "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität" oder gar seinem Drehbuch zu "Wo die wilden Kerle wohnen". In "Zeitoun" nimmt sich der Autor bewusst zurück, lässt den Familienvater erzählen, wie man ihn gepackt, festgenommen und gefoltert hat. Die Erlöse des Buches gehen daher an die Zeitoun Foundation, deren Zweck es ist, den Wiederaufbau von New Orleans zu unterstützen und die Achtung der Menschenrechte in den USA und weltweit zu fördern.
Nicht nur die Welt ist durch ihre Katastrophen strukturiert, sondern auch unser Leben. "Zeitoun" zeigt eindrucksvoll, wie jede Katastrophe einer Eruption gleichkommt, die unser Leben für immer verändert. Und dass die gewaltigsten Katastrophen zumeist mit einem kleinen Lüftchen beginnen.