Erstellt am: 8. 5. 2011 - 23:25 Uhr
Journal 2011. Eintrag 94.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem Fundstück aus dem Magazin Spex, der These von der Gleichzeitigkeit von Hyperaktivität und Erschöpfung als Symptom unserer Leistungs-Gesellschaft."
Die in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte aktuelle Ausgabe des Popkultur-Magazins Spex hatte heute einen Satz für mich bereit. Inmitten einer Titelgeschichte über Protest- und Popkultur (äußerst hatschert am 70er von Bob Dylan aufgehängt, aber bitte) zitiert Spex-Autor Hartwig Vens seinen Kollegen Aram Lintzel. Der hatte im letzten Jahresrückblick das Phänomen Chillwave behandelt und dort die aufgekratzte Hyperaktivität der Rezipienten dem "kreativ erschöpfte Subjekt der Müdigkeitsgesellschaft" gegenübergestellt. "Die Gleichzeitigkeit von Hyperaktivität und Erschöpfung" wäre das Symptom unserer Leistungsgesellschaft. Vens braucht diese neu definierte "Erschöpfung", um laufend verwendete Begriffe wie Apathie und Resignation (die dann letztlich zur Nicht-Auflehnung führen) auch einmal von einer anderen Seite zu beleuchten, nicht um die Müdigkeitsgesellschaft zu verteidigen.
Ich möchte, nicht nur, weil Chillwave heuer auch schon wieder zu Grabe getragen wurde, diesen Gedankengang aus den Musik-Kontext und auch aus dem Vorwurfs-Kontext der Protestkulturbehandlung rauslösen.
Paradox der Gleichzeitigkeit von Aktivität und Müdigkeit
Letztlich ist dieses Paradox der Gleichzeitigkeit von überbordendem Einsatz, vielfacher Überforderung und der Zwang, sich laufend mit vielen Projekten zu beschäftigen und den Rest dessen, was auch noch wichtig ist, upzudaten und der daraus resultierenden Müdigkeit nämlich gar keines. Das eine führt gnadenlos logisch zum anderen.
Interessanterweise wird das aber anders wahrgenommen: erst wenn die Ausgepowertheit, die geistige oder körperliche Erschöpfung krankhafte Züge aufweist, lässt man sich herab, die Ursachen zu untersuchen. Bis dorthin verfährt die Gesellschaft so wie der Mann in dem Witz: er stürzt sich aus dem 99. Stock und ist im Fallen noch auf Höhe des 1. Stocks nicht von der Gefahr seines Handelns zu überzeugen.
Um all dem Wegschieben dieses Wissens zum Trotz die immer noch bestehende Nona-Gefahr dieser Feststellungen wegzudrücken: ich denke, dass die aktive Hyperaktivität nicht nur auf ganz banale Entwicklungen wie die Erweiterung des Wissens, die besseren technologischen Möglichkeiten und die Omnipräsenz von Information zurückzuführen ist. Dieses Sich-Zerfransen hat auch mit der zunehmenden Anforderung an die Arbeits- und Lebenswelt zu tun: weg vom Spezialisten, hin zum Generalisten.
Der leichter rangierbare, letztlich ungelernte Generalist
Eine Gesellschaft wie die unsere, die des Kapitalismus auf Talfahrt, verzichtet nämlich zusehends auf die Fachkraft. Die meisten Beschäftigungs-Verhältnisse sind auf Universalität, auf Unsicherheit und auf unsinnige Ausbeutung ausgerichtet, das Modell des Prekariats funktioniert so gut, dass es in praktisch alle Lebensbereiche eingeschliffen wird.
Prekär Beschäftigte sind klassische hyperaktiv Erschöpfte. Auch weil es die Systeme (ganz bewusst) nicht zulassen, dass man sich auf ein Feld spezialisiert, wirklich einlässt - bis auf gut zu kontrollierende Wissenschaft oder Technik, bis auf eine schmale Führungsschicht an Spezialisten. Der Rest muss zunehmend alles können, wenn er um sein Leiberl rennt.
Komisch, das, was ich bewusst und freiwillig mache, seit immer und ewig schon, mich nämlich für deutlich mehr als ein Thema so zu interessieren, dass ich drüber berichten kann (sei es Popmusik, Film, Popkultur generell, Fußball, Medien, Medienpolitik, Demokratiepolitik etc.) hat für fast alle anderen fatale Auswirkungen - auch, weil da eben keine Freiwilligkeit herrscht.
Zum Beispiel:
... junge Journalisten: Allrounder müssen sie sein, alle Medientastaturen spielen, letztlich auch alle Ressorts bedienen.
... junge Popmusiker: nur Musik herzustellen, das reicht längst nicht mehr - livespielen, imagepflegen, netzwerken, hustlen.
... Studenten: nur studieren geht gar nicht - Zweitstudium, Auslands-Aufenthalte, Nebenjob, Praktika, Arbeitsmarkt im Auge behalten und Ausbildung statt Bildung.
... junge Politiker: nur hinter den Kulissen arbeiten, geht, wenn man was erreichen will, gar nicht - liveauftreten, imagepflegen, netzwerken, repräsentieren, hustlen.
Die Beispiele ließen sich endlos weiterführen.
Erschöpfung durch Dauer-Update
In allen Bereichen sind also Allesfresser gefragt, Allesverwerter, Alleskönner; die letztlich nichts wirklich gut können. So wird der bürgerliche Mittelstand zur Oberschicht einer neuen, vergrößerten Unterschicht; der Begriff des "ungelernten Arbeiters" bekommt eine neue Bedeutung.
Das, was noch vor ein paar Jahren in eigenartigen kleinen Milieus, etwa im sexyarmen Berlin, verortet wurde, nämlich die unglaublich aktive, selbstausbeuerisch vollzogene Umtriebigkeit, hat mittlerweile den Mainstream erreicht.
Bloß: irgendwie hat der das noch nicht zur Kenntnis genommen, hält sich für erhaben, geht davon aus, dass "die anderen" die Prekären sind. In der Zwischenzeit hat sich aber eine Matrix aus Schulungen, neuen Anforderungen, Wissens- Erweiterungen und ständigen Updates über das Individuum gelegt, die aus einer stabilen Arbeitseinheit eine deutlich leichter rangierbare gemacht hat.
Und weil die Erschöpfung irgendwie alle umfasst, die da oben, die da unten sowieso und nun auch die da in der Mitte, fällt sie gar nicht mehr so richtig auf. Und das spielt denen, die diese Entwicklung in eine immer weiter auseinanderdriftende Gesellschaft so bewusst betreiben, total fesch in die Karten.