Erstellt am: 8. 5. 2011 - 13:38 Uhr
Selbstversuche
"If everybody expresses their individualism, how far can it go?"
Eine Frau im Kindbett, die Hebamme zu ihren Füßen, der Mann an ihrer Seite. In der nächsten Einstellung hält der Gelehrte Sekai den Kopf seiner toten Frau in den Händen.
Bereits der Untertitel zu Edgar Honetschlägers "Aun" stellt klar, dass sich der Essayfilm um "The beginning and the end of all things" dreht. Allmachtsfantasien und ungebrochener Fortschrittsglaube, wissenschaftliche wie geistige Selbstversuche sind die großen Themen, die der Künstler Edgar Honetschläger als Regisseur auf eine Geschichte mit kleinem Ensemble abseits der großen Stadt Tokio, auf dem japanischen Land, herunterbricht. Eine unsichtbare Hauptrolle übernimmt Christian Fennesz: Der Grenzgänger hat die Musik zu "Aun" geschaffen.
Edgar Honetschläger_Stadtkino Filmverleih
In Japan ist der gebürtige Linzer Edgar Honetschläger seit zwanzig Jahren zu Hause wie in Österreich, mehr als die Hälfte des Jahres verbringt er in Tokyo. Schon seine Filme "Milk" und "L+R" waren japanisch geprägt, doch in seinem jüngsten Langfilm "Aun" schwindet die Auseinandersetzung mit dem Osten in Bezug auf den Westen. Der Fortschrittsglaube eint die Welten.
Durch die Katastrophe in Fukushima mutet "Aun" heute wie eine poetische Prophezeiung an, ein Prequel zum realen Ereignis. Der menschliche Schöpfungsdrang arbeitet sich an der Natur ab - und scheitert bitterlich.
An der Neuerschaffung des Menschengeschlechts arbeitet der Professor Sekai und daran, einen Motor zu bauen, der Wasser verbrennt. Der brasilianische Forscher Euclides setzt sein bizarres Werk fort. Aus einer Meeresschnecke filtert Sekai Substanzen, die er sich selbst injiziert. Die Nadel dringt in die Haut, die Flüssigkeit verbreitet sich im menschlichen Gewebe.
Edgar Honetschläger_Stadtkino Filmverleih
Aus der Zeit gefallen und doch gegenwärtig
Mikroskopische Welten findet Honetschläger auch in seinen Naturbildern, im fallenden Schnee, am Meeresufer und in Baumkronen. Für Honetschläger ist "AUN" ein Gedicht. Der Film gibt Träumen und Visionen viel Raum. Dimensionen fügen sich zueinander, wenn Aun seiner Mutter zerriebene Scherben auf den bloßen Rücken zwischen die Schulterblätter streicht und Schnittwunden hinterlässt, die an Schriftzeichen erinnern. Oder sich für Euclides mitten im Wald eine weiße Tür auftut und er in einen Spiegelsaal tritt. Wie viel mythologische Bezüge, Symbolik oder in Japan weit verbreitete Alltäglichkeiten in "AUN" stecken, lässt sich nur vermuten.
Es ist ein paradiesischer Fleck, der aus der Zeit gefallen scheint, an dem Aun aufwächst. Über schneebedeckte Wiesen läuft der Bub in Shorts, verliert sich als junger Erwachsener in saftig grünen Mooswäldern und fantasiert ein Wiedersehen mit der verstorbenen Mutter. Der besessene Professor Sekai arbeitet nicht im weißen Kittel in einem sauberen Labor, der alte Meister forscht in seinem Wohnhaus in einem Arbeitszimmer.
Dreht sich das Leben um das Individuum oder geht es um das Überleben der Art? AUN beantwortet diese Frage schmerzlich in der Anfangsszene. Der Bub Aun verteidigt seinen Vater noch als Genie, als junger Mann übt er offen Kritik und stellt dessen Ansichten und Arbeit im Kreise der Studentenjünger in Frage. "The world is turning neurasthenic, due to the evolution of the personality, 'the self'", doziert der alte Sekai. Wo käme man hin, wenn jeder und jeden Individualismus auslebe? "Aber ist der Individualismus nicht der Inbegriff des Menschseins?", kontert Aun.
Wenig wird in "AUN" gesprochen, bei den Dialogen heißt es: Alle Aufmerksamkeit den Untertiteln! Das ist bei Honetschlägers Bildern eine Herausforderung, "AUN" hat eine visuelle Anziehungskraft, die sich bewährt. Man wünscht sich eine Fernbedienung und will Stop drücken, ein Stück zurück, um die kurzen Einblendungen ganz zu erfassen.
"Vergessen Sie für 100 Minuten Logik - wenn Sie es können - und Sie werden glücklich sein", empfiehlt Honetschläger.
Edgar Honetschläger_Stadtkino Filmverleih
Poetisches Ringen um Erkenntnis
Achtung: Hinter diesem Link zu einem Interview mit Filmemacher Edgar Honetschläger stecken einige Spoiler.
Tokyo begegnet einem als menschenleere Stadt in kurzen Sequenzen. "AUN entstand vor dem Hintergrund, den Mythos von der Apokalypse, die der Mensch fürchtet, seitdem er ist, als Bedrohungsszenario nicht mehr akzeptieren zu wollen", sagt Honetschläger in einem Interview. Gedreht hat er auf Honshū mit einem japanischen Team.
Aun ist ein Herantasten an Erkenntnisse, die sich in einem Menschenleben im besten Fall mit dem Tod erschließen werden. Edgar Honetschläger hat für die schweren Fragen ein weiches Kissen gebaut, "AUN" zu sehen, ist wie barfuß über weiches Moos gehen. Wunderbar setzt Christian Fennesz die poetische Erzählweise in der Musik um. Auch Fennesz ist in Japan kein Unbekannter. Mit dem Komponisten, Pianisten und Produzenten Ryūichi Sakamoto hat er mehrfach zusammengearbeitet, ein Stück davon auch für "Aun". In Japan wird nicht viel Unterschied gemacht zwischen Popmusik, klassischer Musik und dem, was Fennesz macht. Alles hat den gleichen künstlerischen Stellenwert. Das wäre hierzulande einen Versuch wert.
Edgar Honetschläger_Stadtkino Filmverleih
"AUN" ist zurzeit im Gartenbaukino in Wien zu sehen. Bleibt zu hoffen, dass "Aun" auch in die Bundesländer reist.
Gottheiten und die Welt könnte man in "Aun" interpretieren. Aber wenn am Ende die Musik von Christian Fennesz ein letztes Mal anschwillt und mit den Bildern in ein oszillierendes Meer verschwimmt, hat man die einzelnen Interpretationsversuche längst sein lassen. Und sich dem meditiativen Zustand ergeben, der einer nicht unangenehmen Ohnmacht gleichkommt. Nach dem Film wird man höchstwahrscheinlich Shintoismus im Japan-Reiseführer nachschlagen oder nach dem Fundament des Glaubens von 119 Millionen JapanerInnen googeln.