Erstellt am: 7. 5. 2011 - 11:39 Uhr
Die lange Nacht der Anarchie
Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sind nie ganz deckungsgleich. Das Bild, das andere zum Beispiel von AnarchistInnen haben und das mainstream-medial gezeichnet wird, beinhaltet die Gleichsetzung AnarchistInnen=zerstörungslustige und nihilistische Unmenschen, Spinner, Monster. Während AnarchistInnen selbst oft betonen, sich friedlich und verantwortungsvoll für Ordnung ohne Herrschaft einzusetzen, für ein Leben ohne Zwang, Gewalt, Befehl, Gehorsam oder Hierarchien.
Utopie und Praxis
Heute.at
Anarchistische Lebensformen zu finden in einer von Konkurrenz- und Leistungsideologie brutalisierten 360°-Krise dürfte nicht nur unmöglich sein, es erscheint auch notwendiger denn je. "Ein Außerhalb gibt es nicht, aber viel Dagegen-Sein. Und den Versuch, Gelerntes zu verlernen, um jenseits der geschriebenen, ungeschriebenen und verinnerlichten Gesetze und Normen die eigenen Regeln zu finden", ist im Programmtext der heuer erstmals stattfindenden Langen Nacht der Anarchie zu lesen.
Institutionen (EKH, Frauencafé, Villa, TÜWI) Räume (Bahoe, bikekitchen, I:DA, Schenke, planet10) und Initiativen (Guerilla Gardening, Libertäre Initiative Sozial Arbeitender u.a.) locken am Samstag, dem 7. Mai 2011 das geschätzte Publikum zu allerlei bunten Mitmach-Ereignissen, für die wohl das gleiche gilt, was Kardinal Christoph Schönborn über die lange Nacht der Kirchen gesagt hat (und was ganz offensichtlich der Sinn von so langen Nächten ist): "Die Menschen können an diesem Abend ihre Schwellenangst überwinden."
krone.at
Um autonome Lebensmittelversorgung geht es bei Workshops mit dem Titel Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. Feministische Fantasie wird bei Diskussionen über das Werk der jüngst verstorbenen amerikanischen Science-Fiction Autorin Joana Russ angeregt. Gefängniskritik und solidarische Kommunikation mit Inhaftierten gehören ebenso zum anarchistischen Grundrüstzeug wie Geschichtsbewusstsein. Eine Ausstellung in der Anarchistischen Bibliothek gibt einen Überblick über die Ereignisse 1936 bis 1939 in Spanien, als Millionen von anarchosyndikalistischen ArbeiterInnen gegen den Faschismus kämpften.
Einer der geistesgegenwärtigsten Schriftsteller des deutschen Sprachraums, Ilija Trojanow, wird hier auch über die Geschichte der literarischen Avantgarde Bulgariens und deren Freiheitskämpfe referieren.
Public Domain
Abgerundet wird das ganze Spektakel mit einer mitternächtlichen Anarchist Fashion Show Party, eine Reise durch sämtliche Strömungen des Anarchismus.
Bis für die Anarchie nach der langen Nacht wieder ein Tag anbricht, bis dahin gibt es noch genug zu tun. Jasper, die ich im Kulturverein Kaleidoskop treffe, (ein ausgeflippter Ort, der unter Verdacht steht), schildert mir den Umfang der Problematik aus anarchistischer Sicht:
noemi
"Hierarchie findet überall dort statt, wo Menschen verschiedene Stellen zugeschrieben werden, die einander über- und untergeordnet sind. Hierarchie passiert genauso in Geschlechterverhältnissen, in persönlichen Beziehungen, in der Schule als Lehrer-Schüler-Prinzip. Natürlich auch im Staat als Vertreter-Politik, wenn manchen Menschen mehr Autorität und Entscheidungskraft zugeschrieben wird als anderen, wenn Menschen nicht mehr für sich selbst entscheiden können."
Lange Nacht der Anarchie - Programm als PDF
Während Jasper mich über das Organisationskonzept von Bezugsgruppen informiert, hat eine Besucherin des Kulturvereins mit flinker Hand ein Kugelschreiber-Portrait von mir angefertigt. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sind nie ganz deckungsgleich.