Erstellt am: 3. 5. 2011 - 23:45 Uhr
Journal 2011. Eintrag 89.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit dem Hinweis auf eine grandiose arte-Serie (Xanadu) und ein paar Entwicklungen zu einem Thema, das im derzeitigen Mainstream nur in verkicherten Andeutungen vorkommt (da war man gesellschaftlich schon einmal weiter...), obwohl sein Alltags-Einfluss mittlerweile enorm ist: Porno.
Ja, und Get Well Soon kommen da auch vor.
Im gestrigen Kulturmontag sprach der französische Autor Frédéric Martel über sein noch nicht übersetztes Buch Maintream und legte eine seiner Grundthesen dar: die Massenkultur, der Mainstream ist deswegen von den Exporten der USA übergeprägt, weil die diesbezüglicher immer unwichtig werdenden Europäer nicht einmal untereinander Bescheid wissen. Wollen, füge ich hinzu.
Wir wissen nichts über Frankreich, aktuelle französische Kunst, Comix, Filme und Musik. Nur das, was per se international angelegt ist, minimale Ausnahmen. Diejenigen, die es als ihre primäre Aufgabe erachten ihre nähere Umgebung, ihre eigene Kultur zu untersuchen und damit besser verstehen zu lernen, die kommen nicht aus dem Nationalstaatlichen heraus.
Hin und wieder zeigt mir wenigstens "arte" etwas; und ich nehme es zunehmend erfreuter an. Zuletzt war das eine gewitzte, leichtfüßige Serie "Fortunes" über die zweite Generation arabischer Migranten, eine Picaresque, eine Art moderner Schelmenroman, und fast so etwas wie das genaue Gegenteil von Chris Morris fantastischen Four Lions, die just dann in Österreich anlaufen, wenn Bin Laden wirklich getötet wird (im Film passiert das ja auch, anders, auch nicht komisch...).
Da wie dort kämpfen junge europäische Muslims um Selbstwert. In Four Lions können sie das nur durch Destruktion, in Fortunes arrangieren sie sich, ziehen Krawatten an und spielen mit im seltsamen Kapitalismus, als Immobilien-Makler.
Fremde und Freaks, Migranten und Pornografen
Das ist dann nicht nur eine durchaus amüsante TV-Serie, sondern erzählt auch etwas über den Umgang der Franzosen, auch abseits von Paris, mit ihren schon lang im Land befindlichen "Fremden".
Nach "Fortunes" hat arte jetzt am letzten Wochenende die nächste Serie ins Rennen geschickt, an der man auch mitproduziert hat: Xanadu spielt auch im Frankreich von heute und es spielt in einer der heutigsten Geschäftszweige überhaupt, der Pornografie. Und der frankokanadische Regisseur Daniel Grou (der sich hinter seinem seltsamen Pseudonym Podz versteckt) schafft das zu Erwartende: er geht mit einem heiklen Thema einerseits sensibel und andererseits offen um. Es wird alles angesprochen und alles gezeigt, ohne jemals spekulativ zu sein.
Denn letztlich ist Xanadu eine Familiengeschichte. Vater Valadine hat das Imperium in den 80ern aufgebaut, mit seinem Star Elise, seiner späteren, mittlerweile verstorbenen Frau. Sohn Laurent muss Papa mit den neuen Realitäten konfrontieren (Kunst-Porno interessiert keinen mehr, im Youporn-Zeitalter ist nur noch purer Gonzo gefragt), Tochter Sarah bleibt nach gescheiterten Ausbrüchen nichts anderes über als ins Familienunternehmen einzusteigen und auch der naturbreite jüngste Sohn Lapo (ein beängstigendes Genie, erinnert an Cate Blanchetts Interpretation des Mitt60er-Dylan), der völlig irre Kunst-Pornos dreht, steigt mit ein. Laurents Frau ist ein passiv/aggressiver Kontroll-Freak, Sarahs Tochter ritzt sich und besucht das Grab von Oma statt in die Schule zu gehen. Dazu kommen der eitle männliche Pornostar, die alternde Diva, der routinierte Regisseur, die zweite Frau vom Chef, auch ein ehemaliger Superstar der Branche.
Get well soon, Xanadu!
Dazu kommt noch ein Amoklauf, Laurents Aufenthalt in einer Art Zwischenwelt und andere verstörende Handlungsstränge. Die grundsätzliche Tonlage, die Düsternis, besser gesagt die Sombreness von Xanadu wird auch durch feine stilistische Mittel unterstützt: Grou blendet einige Szenen mit Blur-Effekten ein oder aus, lässt Träume, Visionen, Dialoge mit den Toten und anderes Zwischenweltliches zu - ohne dabei ein einziges mal überdrüber, artyfarty oder aufgesetzt zu wirken.
Auch diese Serie mit dem beklemmenden Thema, der düsteren Moral und den vielschichtigen Charakteren kommt mit einer gewissen Leichtigkeit daher.
Konstantin Gropper vergleich Xanadu mit den Sopranos oder Six Feet Under, nennt es eine verstörende, mutige Arbeit, zitiert Gus Van Sant und Gaspar Noé. Gut, Groppers "Get Well Soon" haben den kompletten Score zu Xanadu gemacht, er ist also nicht objektiv. Aber wirklich widersprechen würde ich ihm nicht - zumindest die Ansätze sind vorhanden.
Was arte im Zusammenhang mit der Serie (die seit letzter Woche jeden Samstag zu sehen ist und am Donnerstag recht spät in der Nacht wiederholt wird) noch anbietet: ein Update über die Realität der Porno-Industrie, abseits der Valadine-Geschichte (die auf der Geschichte des tatsächlich existierenden Dorcel-Imperium basiert). Man nimmt sie als Ausgangspunkt um den Pornofilm im Web-Zeitalter zu untersuchen. Und weil es im Berichterstattungs-Mainstream zwischen Herzeige-Gekichere und scheinprofessionelles Verachtung kaum Platz für echte Analyse gibt, ist das umso wertvoller.
pornhub löst youporn ab und Brazzers träumt von Hollywood
Aktuell ist nämlich der Boom rund um die Alles-für-alle-frei-Plattform youporn nämlich schon wieder im Abklingen. Der neue Favorit der weltweiten Zugreifer ist das pornhub-Netzwerk. Und pornhub.com ist hauptsächlich eine Werbe-Plattform für ein meldepflichtiges Netzwerk dahinter: Brazzers.
Diese und andere mittlerweile millionenschwere Porno-Player versuchen aus der Gratis-Falle der vielen Amateur- und Fake-Amateur-Angebote zu entkommen - und zwar mit dem Versuch an die goldene Zeit der 80er anzuknüpfen, mit Hochglanz-Produktionen, die auf den Pornhub-Seiten angeteasert werden.
Letztlich sind hier dieselben Mechanismen, die aktuell etwa die Musik- oder die Medien-Branche schwer in Bedrängnis bringen, am Schwingen. Und aktuell sind wohl, das erzählt zumindest der arte-Beipackzettel, die Porno-Produzenten mit ihrem Willen ein Geschäftsmodell zu finden in einer Art Vorreiter-Position.
Das ist nicht die Geschichte von Xanadu, das Thema spielt dort eine kleinere Rolle: die Reihe, die demnächst wohl in eine zweite Staffel gehen wird, thematisiert das bedeutendere Thema dahinter: wie der alltägliche Umgang mit der Pornografie die Menschen, im konkreten die Produzenten-Familie beeinflusst. Und das ganz ohne Moralkeulen in irgendeine Richtung. Das ist ihr toll gelungen. So, und jetzt in das Bild unscharf machen, zum Fade-Out, bitte!