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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

2. 5. 2011 - 22:24

Journal 2011. Eintrag 88.

Die hysterische Gesellschaft. Teil 2.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit Teil zwei einer Annäherung an das Krankheitsbild, das unsere Gesellschaft in Geiselhaft hält: die Hysterie. Wichtige Anregungen entstammen dem Buch Die Angst vor Zurückweisung. Hysterie verstehen von Heinz-Peter Röhr.

Für alle, die den gestrigen ersten Teil dieser Annäherung an das Krankheitsbild, das unsere Gesellschaft großflächig befallen hat, nicht geschafft haben: diese aktuelle Hysterie hat nichts mit alten Freud-Motiven und weiblichen Zuschreibungen zu tun - sie bezeichnet vielmehr unsere zunehmende Unfähigkeit untereinander, geschweige denn mit den demokratiepolitischen Vertretern zu kommunizieren.

Eine gesamte Gesellschaft ist da in ein pathologisches Modell gekippt. Wir agieren in einer ständigen (großteils) unbewußte Inszenierung, mittels derer die Umgebung ständig manipuliert werden soll.

  • Der Stress treibt uns zu Zwanghaftigkeit.
  • Wir überdramatisieren alles, bedienen uns nur noch in der Sprache der Skandalisierung, die Medien-Industrie lebt genauso wie der politische Populismus von dieser Empörungsbewirtschaftung.
  • Veränderungen werden primär als Gefahr gesehen.
  • Zunehmender Egoismus treibt den Staatsbürger in eine wurschtige Privatbürgerschaft.
  • Wir machen uns zunehmend von anderen abhängig, lagern politische, demokratische Grundrechte systematisch aus.
  • Gleichzeitig kümmern wir uns vordringlich um unseren Schein, unseren Außenauftritt, die 15 Minuten Ruhm, die mit alle Mitteln erreicht werden müssen, gemocht zu werden ist die wichtigste Währung der auf Contestismus reduzierten Unterhaltungs-Industrie.
  • Empathie wird entweder als Schwäche gebrandmarkt und abgelehnt, oder übertrieben abgefeiert.
  • Und unsere politische, ethische und moralische Verführbarkeit äußert sich in immer neuen, sehr bewußt gesetzten Grenzverletzungen.

All diese Punkte sind absolut mehrheitstauglich, einige davon totaler common sense, gesellchaftlich komplett widerspruchslos akzeptiert.

All diese Punkte stehen, teilweise wörtlich, als Merkmale der hysterischen Persönlichkeits-Störung in den medizinisch-psychologischen Fachwerken.

Was für den einzelnen leicht festgestellt werden kann, trifft aktuell für das gesamtgesellschaftliche Bild, das wir (und hier kann jeder einsetzen was er mag: Österreich, die EU, die westliche Wertegemeinschaft, die globalisierte Welt) abgeben, genauso zu.
Wir sind eine hysterische Gesellschaft, die hysterische Republik Österreich macht keine Ausnahme, im Gegenteil.

Die unbewusste Inszenierung, die hysterische Zuschreibung

Weil ich gestern die Frage nach den größten Gefahren und möglicher Selbsterkenntnis aufgeworfen habe: die größte Gefahr ist jene, die alles überlagernde unbewusste Inszenierung, die das Krankheitsbild ausmacht, nicht als solche wahrzunehmen, sondern als die zentrale Norm zu begreifen, als die Realität durch die Fantasie, das Ideal, die Zuschreibung zu ersetzen.

Das passiert im Privat/Einzelfall genauso wie gesamtgesellschaftlich: die von den Rechtspopulisten vorgegaukelte Fantasie einer möglichen Abschottung eines kleinen Binnenstaates gegen Außeneinflüsse, ein Ausländerfreies Österreich etwa ist nichts als die Summe hysterischer Zuschreibungen und Wunschbilder.

Dazu kommen die ebenfalls bereits gestern ausführlich beschriebenen paradoxen Forderungen einer bereits krass in den Glauben an die eigene Parallelwelt abgedrifteten Gesellschaft, die Politikverdrossenheit fördert und (bereits kruzfristig) demokratiegefährdend ist. Eine Gesellschaft mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur wird in ihrer Einbildungskraft ertrinken. Oder sie wird sich an eine Retter-Figur ausliefern, die ihre Bedürfnisse auf das wildeste instrumentalisiert. Das ist durchaus mit den psychohygienischen Zuständen in der Weimarer Republik und der Massenhysterie rund um die Machtergreifung der Nazis vergleichbar.

Raus aus der Drama-Falle, wir sitzen im Comfy Chair

Noch eine Frage, die im gesellschaftlichen Zusammenhang ein wenig deppert klingt, habe ich gestern aufgeworfen: die nach der möglichen Heilung.
Da wir aber von einem (individuellen) Krankheitsbild sprechen, gibt es da aber Modelle, die (womöglich) auch auf eine größere Einheit umzulegen sind.

Zuerst gilt es die Selbsterkennungs-Kräfte zu steigern.
Es gilt die Gründe für die Ängste verstehen zu lernen.
Es gilt die Dramatisierungen abzubauen und emotionale Anhängigkeiten zu überwinden.
Es gilt aus der Comfy Chair-Situation, der "Bedürfnisbefriedigung-Sofort!"-Falle zu entkommen
Das hysterische Spiel sollte durch echte Konflikt-Lösungen ersetzt werden. Und es gilt die Sinnfrage zu stellen, einem bislang an einer oberflächlich-pseudoemotional geführten Leben Tiefe zu verleihen
Es gilt das Theaterspielen, den Dauer-Selbstbetrug, mit dem auch alle anderen abgelinkt werden sollen, zu beenden.

Das sind alles (großteils wörtliche) Lehrbuch-Maßnahmen, die schon beim Einzelnen schwierig anzuwenden sind - das einer ganzen Gesellschaft abzuverlangen.
Da sich mittlerweile ganze Bedürfnis-Industrien darauf verstehen das Drama als einzigen und andauernden Reiz einzusetzen, damit jede vormals versachlichte Ebene (wie Politik oder Ökonomie), jede Nischenkultur und jeden medial erreichbaren Ort der Welt zu vereinnahmen, wird sich das aber nicht wirklich machen lassen.

Das Zentrum dieser Maßnahmen (Drama rausnehmen, nicht den erstbesten Blödsinn nachplappern, auf sich selber vertrauen, Solidarität herstellen, in Ruhe Lösungen suchen) stellt nämlich das exakte Gegenteil von allem dar, was aktuell als cool, lässig, opportun, erfolgsversprechend und machbar ist. Außerdem - und das ist im Kapitalismus ja das allerwichtigste - ist das Geschäftsmodell dieses neuen Wegs noch nicht klar.

Es gibt also keine reele Chance aus der aktuellen Katastrophe der hysterischen Gesellschaft rauszukommen - auch weil es schon an der Wahrnehmung des Problems scheitert. Die besten Bedingungen also: denn erst das scheinbar Unmögliche ist der beste Rauskitzler für echt knackige Utopien.