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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

1. 5. 2011 - 22:12

Journal 2011. Eintrag 87.

Die hysterische Gesellschaft. Teil 1.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit dem ersten Teil einer Annäherung an das Krankheitsbild, das unsere Gesellschaft in Geiselhaft hält: die Hysterie.

Oft stehen hinter seltsamen Verhaltensweisen, die von Experten durchpsychologisiert und von Populisten instrumentalisiert werden, schlichte Krankheitsbilder. Ich hab's nicht so mit Krankheiten und Gerede drüber, deswegen denke ich immer relativ spät an diese Möglichkeit. Wie auch im konkreten Fall: dem hervorstechenden Krankheitsbild unserer Gesellschaft - der Hysterie. Wir leben in einer hysterischen Gesellschaft und füttern sie jeden Tag aufs Neue. Wir agieren hysterisch und entwickeln zunehmend pathologische Züge, wir machen uns dadurch krank, in fast jederlei Hinsicht. Wir sind eine hysterische Gesellschaft.

Dabei bin ich bei kaum einem anderen Begriff so vorsichtig wie bei der Hysterie. Denn wer auch immer sie - unbedacht, ohne viel Wissen oder in voller untergiffiger Absicht - herbeizitiert, lässt dabei die alte Freud'sche Definition mitschwingen, in der noch viel von einem durchaus frauenfeindlichen Klima des 19. Jahrhunderts mitschwingt, in dem die Entdeckung der "Hysterie" gesellschaftlich vor allem dazu diente, die aufkeimende Selbstständigkeit der Frauen abzudämpfen und allfällige Ambitionen, die dem (männlichen) Establishment gefährlich werden konnten, mit einem politisch motivierten Krankheitsbild abzufangen.

Dieses Bild der übergeschnappten Suffragette schwingt meist auch heute noch mit, wenn von Hysterie die Rede ist. Mit der wissenschaftlichen Definition und der aktuellen gesellschaftlichen Realität des Begriffs, der Krankheitsbildes hat das aber nichts zu tun.
Im Gegenteil.
Aus der einstmals weiblich konnotierten Hysterie ist nämlich eine des gesellschaftlichen Mainstreams geworden, der - weltweit - selbstverständlich immer noch ganz klar männlich geprägt ist. Die Hysterie der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist eine Männer-Hysterie, was aus vielen verschiedenen Gründen weitaus schlimmer und gefährlicher ist als alles, was es in dieser Hinsicht bisher gab.
Aber dazu kommen wir noch.
Im übrigen ist meine Verwendung der männlichen Form heute ganz bewusst so gewählt - was sonst so gut wie nie der Fall ist.

Zuerst will ich erst einmal aufschreiben, wie es mich dorthingetrieben hat. Das ist in drei Schritten passiert.

Schritt 1: die Hysterie des großen Sprungs vorwärts

Es war letzten Mittwoch, in der Bonustrack-Sendung. Der letzte Anrufer, ein 17-jähriger Beatboxer mit beachtlicher Lebenserfahrung (einmal Drogen und retour) warf eine Frage auf, die ihn aktuell beschäftigt: warum es so wenige Menschen schaffen würden, Ziele in mehreren Schritten anzugehen und so auch zu erreichen. Stattdessen würden die meisten auf den großen Wurf hoffen. Er wollte das auf seine Altersgenossen beschränken, ich habe ihm widersprochen und das auf alle ausgeweitet.
Die Beobachtung ist richtig und die Konsequenzen sind fatal: weil öffentlich nur der Paarlauf "eine Anstrengung/dann aber sofort Ergebnis!" Bedeutung hat und die Strategie der kleinen planbaren Schritte gar nicht mehr als Option wahrgenommen wird, stehen wir in vierlei Hinsicht dort, wo wir stehen.

Schritt 2: die Beschimpfung des hysterischen Publikums

Dann habe ich, besser spät als nie, die letzten Video-Blogs von Robert Misik angesehen und bin dabei auf die fantastische Publikumsbeschimpfung gestoßen.
Der Videoblog handelt davon, was zu lange als reine Einbahnstraße betrachtet wurde und öffnet die Demokratie für den Gegenverkehr.

Zumindest genauso katastrophal wie das, was die politischen Proponenten nämlich täglich anstellen, ist das, was das p.t. Publikum so an Erwartungshaltungen ausstellt. Meist ist es noch eine ganze Fahrspur blöder. Ja, dass Leute doof sind, setz ich als bekannt voraus.

Erwartungs-Paradoxa, die alle, Wähler und Medien dauernd gemeinsam einfordern: kraftvoll, aber nicht zu mächtig; kantig aber doch kompromisslerisch; verbindlich, aber konfliktbereit; Parteiunabhängigkeit aber ohne die Parteilinie zu verlassen; visionär aber nicht abgehoben; und ja nicht anders oder besser als der kleinste gemeinsame Nenner.

Wer sich in seinen Ansprüchen wie ein infantiles Kleinkind benimmt und andauernd Unerfüllbares haben will, auf die Quadratur des Kreises besteht und paradoxe Forderungen nicht als solche wahrnehmen will, der wird auch wie ein Kleinkind behandelt. Das haben sich Politik und - vor allem - Medien zunutze gemacht; nicht zum Vorteil der Demokratie, aber durchaus wegen des Drucks der Basis. Deren Aufmerksamkeit erregt man nur durch Radau - oder durch lässiges Drüberstehen, aber garantiert nicht durch ordentliche Arbeit. Das gilt als fad und uncool.

Konsequenz: Bürgerverdrossenheit, die ebenso stark ist wie die Politiker-Verdrossenheit. Sich für "Eine-Minute-Kreuzerl-Machen" vier Jahre lang anbrunzen lassen, nein danke! Diese Ressentiment sorgen im Endeffekt also dafür, dass nur noch komplett seelenlose Säcke, krankhafte Ehrgeizler und Seelenverkäufer in der Politik sein werden.

Das musste auch einmal gesagt werden, sagt Misik. Right on.

Kurz darauf sehe ich ISS Kurz' Versuche sich in der ZiB2 gegen den besten seiner Zunft zu behaupten. Warum ich ins Kurz-Bashing nicht einstimme, habe ich hier näher ausgeführt. Für alle anderen, auch die Besten der Zunft, ist er aber das ideale Opfer für die Erwartungs-Paradoxa. Wenn er nicht mehr der Geilomat ist, sondern versucht die Integrations-Debatte zu versachlichen, dann wird eben das verarscht - es gibt nichts, was er oder ein x-beliebiger anderer überhaupt machen könnte, was nicht eine mächtigen Hysteriker-Gruppe zu Wutgeheul veranlassen wurde. Das geht bis in Details: Kurz hat wohl vergessen, den wie alle Arbeitskollegen automatisch akzeptierten E. Strasser auf Facebook zu entfrienden - Bash! Hätte er es getan, wäre ihm genau diese Aktion als opportunistisch zum Vorwurf gemacht worden. Mit einem Wort: es ist hoffnungslos. Bürger und ihre selbsternannten Medien-Sprecher sind schlimmer als der übelste Politiker.

Schritt 3: Selbst-Manipulation durch Hysterie

Dann erzählt mir eine Bekannte über die kleine therapeutisch gesteuerte Selbsterkenntnis, die sie gerade über das Verhältnis zu ihrer Mutter gewinnt. Und dabei kommt auch der Begriff der Hysterie, der Fachbegriff wohlgemerkt.

Und ich bekam ein paar Zeilen aus Die Angst vor Zurückweisung. Hysterie verstehen von Heinz-Peter Röhr vorgelesen. Wie sich nämlich das Krankheitsbild direkt in den Manipulations-Versuchen niederschlägt:

  • Mir geht es schlecht, bitte kümmere dich!
  • Ich kann nicht allein sein, bleib da!
  • Ich bin so einsam, unterhalte mich!

Oder Klagen wie:

  • Niemand versteht, wie schlecht es mir geht!
  • Niemand kümmert sich um mich!
  • Ich bin enttäuscht von dir, weil du nicht meinen Erwartungen entsprichst.

Das sind nicht nur klassische Strategien, mit denen Eltern gern ihren Nachwuchs oder mit dem der scheinbar Schwächere in der Beziehung den scheinbar Stärkeren kontrolliert - das sind alles auch gesellschaftliche Symptome.
Ganz aktuelle.

Der gelernte/geneigte Österreicher (ich bleibe wie gesagt ganz bewusst bei der männlichen Form) geht ja genauso vor: die gesellschaftlichen Vertreter müssen sich kümmern, sollen Unterhaltung leisten, weil es uns ja so schlecht geht.
Dabei geht es - ebenso wie bei der Hysterie - nie darum, dass es uns wirklich schlecht geht (das sind Phantomschmerzen, nicht mehr) sondern um eine narzistische Nabelschau, um ein zutiefst verunsichertes Selbstbild.

Das aus dem Krankheits-Bild entstehende "Niemand versteht mich!"-Gewinsel macht Bürger zu Staatsverächtern und treibt eine ganze Gesellschaft zu populistischen Heilsversprechern, die ein Kümmern, ein Unterhalten vorgeben und damit dafür sorgen, dass sich dieses sie begünstigende Krankheitsbild festigt.

Und da setzt jetzt die Beobachtung aus Schritt 1 ein: da es keine Kultur der kleinen Schritte, keinerlei Kultur der Sachlichkeit und schon längst keine Konflikt/Debattenkultur mehr gibt, sondern alles nur mit großen Würfen, Heilsversprechen, Next-Superstar-Schimären und anderem aufgeblasenem Plunder funktioniert, fällt die Alternative zu dieser sofortigen Bedürfnis-Befriedigung immer mehr weg.

Mein 17-jähriger Anrufer, der sich in all seine unhysterischen Herangehensweise an den kleinen Schritten delektiert, etwas aufbauen will, anstatt nach 15 Minuten eines fahlen Ruhms in Tristesse zu versickern, ist in einer Minderheiten-Position, die sich gewaschen hat.
Er ist eine Insel in einem Meer von Hysterie geworden.

Morgen in Teil 2 von "Die hysterische Gesellschaft":

Worin äußern sich die ärgsten Gefahren der gesamtgesellschaftlichen Hysterie?
Wo sind die Bereiche, in denen erste Selbsterkenntnis-Prozesse eingesetzt hat - oder gibt's die womöglich gar nicht?
Und: gibt es einen Weg raus?