Erstellt am: 30. 4. 2011 - 00:21 Uhr
Ernste Lektionen
Kennt Ihr das Gefühl, wenn etwas Schreckliches passiert und man im Augenblick der Tragödie auch gleichzeitig eine angenehme Erleichterung verspürt? Wenn ein Unglück gleichzeitig das Bedürfnis nach Endlichkeit einlöst? Solch eine seltsame Emotion evoziert das Donaufestival in Krems zu Beginn des zweiten Spieltages. Was war passiert?
Donaufestival
Der Australier Ben Frost führte seine Auftragsarbeit "Music For Solaris" für das "Unsound Krakow Festival Bahn" in der zu einem Walfischbauch verdunkelten Minoritenkirche auf. Anlässlich des 50. Geburtstags des Romans "Solaris" vom polnischen Science Fiction-Philosophen Stanislaw Lem, der 1972 von Andrej Tarkovskij verfilmt wurde, erarbeitete Frost gemeinsam mit Daniel Bjarnason und dem Krakauer Sinfonie-Orchester ein Stück für 29 StreicherInnen, Percussion, präpariertes Klavier, Gitarre und Elektronik.
florian schulte/donaufestival
Und Ben Frost gelingt das, was man in der Donaufestival-Presse eigentlich über seinen regulären Auftritt am ersten Festival-Tag lesen konnte: Arvo Pärt, von Trent Reznor arrangiert.
Nur kann man den Trent Reznor streichen. Ben Frost entwirft eine musikalische Meditation, die problemlos mit den Klassikern des zeitgenössischen estnischen Komponisten Arvo Pärt mithalten kann und wie beim Meister auf die gewaltige Wirkung des Dreiklangs setzt. Arvo Pärt komponiert seine Musik als Lobpreisung der christlichen Schöpfung. Ben Frost komponierte im Sinne der verzweifelten Solaris-Philosophie. Ein gewaltiger Programmpunkt.
Das Donaufestival 2011 auf FM4
- Donaufestival Tag 1: Knoten, Wurzeln, Triebe (David Pfister)
- Automatisch Autotune mit James Blake (Philipp L'Heritier)
- Die Universalkünstlerin: Zu Besuch bei Laurie Anderson (Christian Lehner)
- Donaufestival Tag 2: Ernste Lektionen (David Pfister)
Programmtipp:
Am 3.5. senden gibt es in der FM4 Homebase (19-22) ein "Best of" des ersten Wochenendes in Krems
Weirder Folk und Afro Beat
Und während ich noch gedankenverloren über den Kosmos grübelte, hat sich Kollege Philipp L'Heritier Wildbirds & Peacedrums angesehen. Philipp L'Heritier bitte erzähle uns:
Das großartige schwedische Duo Wildbirds & Peacedrums baut in seiner Musik auf rigorose Beschränkung der Mittel: Außer Stimme, Drums, Percussions und sonstigem Klopf- und Raschelinstrumentarium kommen Mariam Wallentin und Andreas Werliin – ein Ehepaar – so gut wie kein Geräuscherzeuger auf die Platte.
Das Ergebnis ist eine selten gehörte Verquickung von weirdem Folk, Afrobeat und schiefem Jazz-Gerumpel aus der Sicht von Indie-Typen. Mit ihrer aktuellen, dritten Platte führt die Band ihren Formalismus mit neuer Drastik fort: Das Ende 2010 erschienene Album "Rivers" ist eigentlich eine Doppel-EP, einmal namens "Retina", einmal "Iris". Part 1 stützt sich ausgiebig auf Chor-Gesänge, Teil 2 zieht seine Kräfte großzügig aus dem süßlichen Scheppern der Steeldrum. Beim Live-Auftritt in Krems bringen Wildbirds & Peacedrums mit Ausnahme eines Stückes das gesamte neue Album zur Aufführung und verzichten auf die beiden ebenso herrlichen Vorgänger "Heartcore" und "The Snake".
florian schulte/donaufestival
Für Konzerte hat sich die Band mit einem Synthesizer-Mann zum Trio aufgefettet und nimmt so ihrer Musik etwas von ihrem spröden – auf Tonträger nervenaufreibend spannenden – Formalismus. Der Live-Situation tut's gut: Die Stücke werden stärker Richtung nachfühlbarem Popsong gebogen, als rhythmisches Backbone lassen Wildbirds & Peacedrums mitunter einen motorischen Krautrock-Groove durchschimmern.
florian schulte/donaufestival
Verglichen mit der Kargheit der Platten wird das Konzert von einer gar nicht unsympathischen psychedelischen Hippiehaftigkeit getragen – inklusive schamanistischer Patti-Smith-Gedenk-Performances von Sängerin Mariam Wallentin mit großen, ausladenden, weißgottwas verheißenden Gesten. Lustig. Nach diesem sehr, sehr guten Konzert dürften Wildbirds & Peacedrums ein paar Fans mehr haben – man kann es an den Ausdruckstänzen in den vorderen Reihen ablesen. Meet Me At The Merch.
Genialer Dionysiker?
Und jetzt zu Susi Ondrusova die sich Gedanken über John Cale, den Jeremia des Donaufestival gemacht hat:
Ganz ehrlich: Die Audienz bei John Cale, die ich gemeinsam mit Fritz Ostermayer bestritten habe und die euch minutiös nächsten Dienstag in der Sounds Of Donaufestival - Homebase Spezialstunde vorgespielt wird, war eigentlich spannender als das Konzert. Ich hab im Kreise meiner beiden Vertrauenskonzertbegleiter nach euphorischen statt nachdenklichen Posen verlangt, so ähnlich aufdringlich wie es John Cale in "Perfect" besingt, sollte und wollte und musste dieses Konzerterlebnis ausfallen: "I can´t help it you´re perfect for me. i couldnt care less you´re perfect for me. I´ve been waiting you´re perfect for me right now!"
Donaufestival
Es hat ein wenig funktioniert, wir waren schliesslich hinter jenem Fan positioniert der mit den Händen in den Höhen jeden zweiten Songtitel herausgeschrien hat, als dieser von John Cale´s Band angespielt wurde. John Cale´s Band war grossartig begleitet durch das femous orchester einmal als Chor und einmal an den Bläsern.
Im Vergleich zu der Livesause, die uns am Primavera Festival erwartet, wo John Cale sein Album "Paris 1919" gemeinsam mit einem Orchester aufführen wird, war das Konzert gestern bei aller Liebe und Bewunderung schon auch faszinierend aber irgendwie auch brav.
Donaufestival
Jetzt kommt nämlich die Frage: braucht es die oder braucht es die nicht, die Hits? Soll ein Konzert das beste, interessantest Material seines Schaffens beinhalten oder das sicherste? Wir haben am Stammtisch diskutiert und diskutiert und sind zu keiner Meinung gekommen.
Ecstatic Rites
Auch beim Programm in der Messehalle hält man sich heute nicht sehr mit profanen Posen auf und stellt einer neuen intelligenten Inkarnation von Metal eine Spielwiese zur Verfügung.
florian schulte/donaufestival
Das Strapazieren von Black Metal-Ikonographie hat in den letzten Jahren einen unangenehmen Zenit erreicht und mit einem lieben Corpsepaint lassen sich inzwischen auch Erdbeerkekse besser verkaufen. Todesverachtenden Anbetern von Lärm und Misanthropie bleibt nichts anderes mehr übrig, als das Tarngewand der Alltäglichkeit anzuziehen, um dann umso brutaler zuzuschlagen.
Um die ernsthafte Darstellung von Spritualität gehe es Liturgy-Bandchef Hunter Hunt-Hendrix, der klassische Komposition studiert hat - das erzählte Hunt-Hendrix Kollegin Nina Hofer im Interview. Und damit setzen Liturgy aus Brooklyn auch gleich die Befindlichkeit des Ben Frost fort.
florian schulte/donaufestival
Musikalisch knüpfen Liturgy am Urknall des Black Metal an und erinnern stellenweise frappant an die frühen Burzum-Klassiker. Vielleicht mit einem Hauch von Stakkato-Hardcore, der sich vor allem in der Schlagzeugarbeit manifestiert. Nach Mächtigkeit verlangend, gleichzeitig aber die Fragilität eines sterbenden Vogels in der Stimme Hunters, dessen historisches Interesse vor allem dem 19. Jahrhundert und russischen Komponisten gilt. Aufbrausendes Gefühl, nach Erlösung verlangendes Pathos. Genau das wird vor allem dadurch glaubwürdig erreicht, dass auf die gängigen optischen Stilmittel verzichtet wird.
The sun always shines on TV
Die andere Formation am zweiten Donaufestival-Tag die Metal durch einen neuen Geburtskanal quält, ist das Ehepaar Aidan Baker und Leah Buckareff aus Kanada.
Nadja
2003 startet Baker sein Soloprojekt "Nadja". Dann treten Liebe und Kreativität in Form seiner zukünftigen Ehefrau in sein Leben. Und ab 2005 betreibt man das dronige Doom-Metal-Projekt gemeinsam. Und genau wie bei "Liturgy" spielt traditionelle Metal-Ästhetik bei "Nadja" natürlich keine Rolle. Und wie bei "Liturgy" führt das ästhetische Faktum Alltag konsequenter zum Ziel, als es vier Munitionsgürtel pro MusikerIn jemals könnten.
florian schulte/donaufestival