Erstellt am: 3. 5. 2011 - 19:40 Uhr
Das Durchgangssyndrom
Seit dreißig Jahren sind Mia, die rothaarige Dichterin und Boris, der Neurowissenschafter (ob seines bevorzugten Forschungsobjekts auch Rattenmann genannt), ein Paar. Da plädiert er plötzlich für eine Pause: von der Ehefrau und für eine zwanzig Jahre jüngere Französin und Arbeitskollegin.
Mia gerät daraufhin außer sich - im wahrsten Sinne des Wortes. Die Ärzte diagnostizieren ein Durchgangssyndrom, eine vorübergehende psychotische Störung. Sie selbst betitelt ihr Krankenhaus-Tagebuch mit "Hirnscherben"; die Person darin (er)kennt sie nicht.
Nachdem Mia einigermaßen wiederhergestellt ist, beschließt sie, ihre Wohnung in Brooklyn vorerst mit einem Haus in Minnesota zu tauschen. Das muss sie allerdings erst einmal durchputzen, so prallvoll ist es mit dem Leben seiner sonstigen Bewohner.
Ohne Männer
Ihr neuer Alltag wird eingebettet sein zwischen der illustren Schar ihrer Mutter und deren alternden Freundinnen, der jungen Nachbarin samt zwei Kids, Mias Lyrikkurs, dem ebenfalls nur Mädchen beiwohnen sowie Besuchen von Schwester und Tochter.
Ein Sommer ohne Männer eben. Denn die tauchen nur als erinnerte, passierende Personen auf oder, wie beispielsweise Ehemann Boris, per Email-Kontakt. Alles in allem bleiben sie schemenhaft, nur die Frauen bekommen Konturen.
Wie etwa Abigail, eine der Witwen der mütterlichen Entourage, die seit Jahr und Tag versteckte, auch sexuelle Botschaften in ihre Stickarbeiten einwirkt. Oder Alice, eine von Mias Schülerinnen, die - genau wie einst die bewunderte Lehrerin selbst - durch die Intrigen-Hölle Gleichaltriger gehen wird müssen.
Hintergrund
Der Roman ist in relativ kurze Abschnitte gegliedert, wirkt mitunter tagebuchartig. Denn während vordergründig die Geschehnisse des Sommers aufgerollt werden, schreibt die Ich-Erzählerin im Buch Gedichte nieder, über sexuelle Erfahrungen, Kindheitserinnerungen, Geschlechter-verhältnisse oder begibt sich auf das Terrain von Lyrik, Philosophie, Psychologie und Neurologie. Versammelt so also alle Steckenpfere von Siri Hustvedt.
Beowulf Sheehan
Kommenden Freitag wird Siri Hustvedt für eine Sigmund Freud Lecture nach Wien kommen.
Die Vorlesung ist bereits völlig ausgebucht, auch die Warteliste sehr, sehr lang. Anschließend gibt es drei Lesetermine, allerdings nur in Deutschland. Die nächstgelegene Station zu Österreich ist Heidelberg.
Nicht immer aber unterstützt das Format den Lesefluss. Der teilweise recht anspruchsvolle Inhalt scheint mit der Form nicht ganz einherzugehen. Allzu ausführlichen Exkurse in die Wissenschaft, die für mich schon die Lektüre von Siri Hustvedts letztem Werk "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven" schwierig machten, hemmen. Dennoch: Stil, Witz und Wissen der Autorin halten interessiert.
Dabei kommt man nicht umhin, in Mias Züge ab und an eine Siri hineinzuinterpretieren: ist die Protagonistin doch Dichterin, kommt aus Minnesota, lebt in New York und ist mit einem Intellektuellen verheiratet. Aber wie schreibt Frau Hustvedt an anderer Stelle:
„Ein Buch ist eine Zusammenarbeit von demjenigen, der liest, und dem, was gelesen wird.“
Ich habe in „Der Sommer ohne Männer“ von kleinen und großen Toden gelesen, dem Sterben, Verlassenwerden, der Liebe und Ekstasen – in vielerlei Hinsicht.