Erstellt am: 30. 4. 2011 - 15:51 Uhr
Herrlich! Lendlicher Zustand
Wo wenig ist, bleibt Platz für Projektion und Intervention. Maulwurfhügel türmen sich plötzlich auf Pflastersteinen. Eine komplette Wohnzimmereinrichtung aus Bananenschachteln und Karton steht auf dem Gehsteig. Durch ein Guckloch in einem Bauzaun sieht man Alpenglühen. Fake Plastic Trees sprießen aus Litfasssäulen und MP3s zum Pflücken kleben an Schaufenstern. Seit 2008 entrollt sich der Lendwirbel in 8020 Graz, vis-à-vis des Schlossbergs auf der rechten Murseite. Was mit einer dreitägigen Blockparty begonnen hat, ist zu einer mehrtätigen Aktion geworden. Ja, zu einem Zustand. Eine Mission hatte der Lendwirbel schon immer. Nun hat er auch ein Manifest.
Bereits am 5. Mai feiert Chmafu Nocords sein zehnjähriges Bestehen in der Postgarage, Austrofred gibt ein Ständchen und es gratulieren Capillary Action, The Striggles und DJ Cheever.
"Der Lendwirbel ist ein soziokulturelles Straßen- und Stadtteilfest, das sich mit einer eigenen Street Gallery, einem Musikprogramm und sehr vielen kleinen, feinen Projekten über eine Woche bis zu den Konzerten, von Eternal Charts zu Vortex Rex, überall im Lend zieht", bringt Lendwirblerin Nana Pötsch ein Programm auf den Punkt, das offen gestaltet wird.

Radio FM4
Morgendliches Turnen in aller Öffentlichkeit kennt man sonst nur aus Asien. Elmar macht fit. Das erste Mix-Tape des Kassettenlabels Wilhelm Show Me The Major Label in sattem Langenscheidt Gelb gehalten. Der Künstler Valentin Ruhry hat Wäsche aufgehängt. "Tanzen ist auch Sport", steht auf einem geschulterten Stoffbeutel, und Inspektor Gadget heißt Kristian Davidek, mit Schirm, Charme und Discokugelhelm und einem Soundsystem im Einsatzfahrzeug, das vor der barocken Mariahilferkirche parkt. Eine alte Frau kommt aus dem Kreuzgang, bleibt stehen, wippt. Ihr Mann eilt hinterher und hakt sie unter. Auf Beton schwimmt ein Stencil-Fisch. So darf man sich den Lendwirbel vorstellen. Über fünfzig Projekte sind in Vorbereitung für kommende Woche. Und da zähle ich die Street Gallery mit ihren wunderbaren Exponaten noch gar nicht dazu.
Für dieses Jahr und konkret kommenden Samstag, 7. Mai, borgt man sich am besten Skaters aus oder holt die eigenen aus der Abstellkammer: Für die erste Rollschuhdisco mit FM4 Davidecks. Auch Tische tanzen und wer sich noch einsam fühlt oder wem grad fad ist, der könnte zum Wirbeldating schauen. Oder "Urban Pacman" spielen.
Der Lendwirbel ist jedoch nicht reines Gaudium, sondern wirft kontinuierlich die Frage auf: Wem gehört der öffentliche Raum?
"Aha.. und von wem erobern sie den öffentlichen Raum zurück?"
Raum zurück erobern
Wenn KünstlerInnen schon etwas machen, dann sollen sie urban intervenieren oder sich um Integration kümmern, diesen Eindruck habe ich derzeit vielerorts. Ich finde, KünstlerInnen sollten zuallererst ihre Kunst machen. Um den Rest können sich alle anderen auch kümmern. Wie das funktioniert, zeigt sich beim Lendwirbel.
Es geht um eine kritische Analyse und Auseinandersetzung mit der Welt vor der eigenen Tür. Der Gehsteig wird zum Naherholungsgebiet, aus dem grüßenden Nicken wird ein Hallo. Darf's sonst noch was sein, noch ein paar Deka Idylle? Und ob.
Der Lendwirbel ist kein Projekt des "Designmonat Graz", das erklären die LendwirblerInnen explizit. Für Zaungäste mag das unbedeutend sein, doch im jüngst von der UNESCO zur "City of Design" ernannten Graz hat diese Abgrenzung ihre Berechtigung. Rund um die Jakoministraße wurde ein rotes Laufband ausgerollt, um ein neues Kreativviertel zu markieren, das mit einigen Ladenlokalen für junge Büros attraktiv gemacht werden will. Vor Freude über den errungenen UNESCO-Titel gab sich Graz so kreativ, ein "Straßenfest" einen Monat vor dem Lendwirbel in der Mariahilferstraße zu "feiern", im natürlich gewachsenen Kreativviertel, wenn man so will. Verwechslungsgefahr gab es keine. Der Lendwirbel bemüht sich, eine Eventisierung tunlichst zu vermeiden.

Lendwirbel
Innere und äußere Sicherheit liegt auch dem Lendwirbel am Herzen. Culture Unlimited präsentiert den ersten Grazer Nacktscanner, der ab 5. Mai rund um die Uhr zur Durchleuchtung bereitsteht.
Von Oberflächenbehandlung halten die LendwirblerInnen nämlich gar nichts. Darauf weisen sie dieses Jahr nachdrücklich hin, und sie kritisieren eine Vereinnahmung des Wirbels im Lend zur bloßen Standortvermarktung ebenso wie das generelle, mit Mai in Kraft tretende Bettelverbot des Landes Steiermark. Das Manifest ist umsichtig formuliert und biegsam wie eine Wirbelsäule mit gesunden Bandscheiben. Verfasst wurde es im Kollektiv von zahlreichen LendwirblerInnen auf einer Onlineplattform, angehängt sind drei konkrete Forderungen: Öffentlicher Raum, der als Basis gelebter Demokratie funktioniert, offene Tauschsysteme und offene Entscheidungsstrukturen (und zwar explizit "keine BürgerInnenbefragungen und Projektbeteiligungen als Alibiaktion").
Damit reiht sich der Lendwirbel in eine internationale Tradition von Initiativen, die ähnliche Konzepte und Ziele verfolgen. In Hamburg etwa hieß es 2009 "Not in our name, Marke Hamburg!". Neben Rocko Schamoni, Melissa Logan u.a. ist der Journalist Christoph Twickel einer der mittragenden AktivistInnen. Twickel kommt zum Symposium am 6. Mai. Diskutiert wird die Frage: Welches Ausmaß kann so eine sozio-urbane Initiative annehmen?
Lendwirbeln wird zur Taktik
Gehörig angetrieben wird der Lendwirbel von einigen der kreativsten Menschen in Graz. Als kreative Industrie sehen sie sich nicht. Den öffentlichen Raum vor den Arbeitsstätten und Haustüren als Wohnzimmer und Lebensraum im Freien zu begreifen und zu nützen, das ist die Ursprungsidee des Lendwirbels. Wie selbstverständlich wurde und wird sie von vielen BewohnerInnen des Stadtteils aufgegriffen.

Lendwirbel
Der Lendwirbel würde den Internationalen Situationisten gefallen. Ob bewusst oder unbewusst, dieser Wirbel fördert und fordert ein „dérive“, ein Umherschweifen im besten ihrer Sinne: Die Künstlergruppe, der u.a. der Soziologe Henri Lefèbvre angehörte, propagierte, Orte nicht aufgrund ihrer Funktion und Bedeutung, sondern vielmehr aufzusuchen, weil sie gewisse Stimmungen und Gefühle bei den Anwesenden zu erzeugen vermögen. „Ihre Stadt ordnet sich nach Zerstreuungsqualitäten – nicht nach Wohn-, Geschäfts- und Einkaufsvierteln“, erzählt mir die Stadtethnologin Anja Schwanhäußer. Die transformierte Stadt könnte man sich als permanentes Happening vorstellen, sagt Schwanhäußer, die den Berliner Underground erforscht hat. Ja, wo kommen wir denn da hin?
Der wunderbare Zustand Lendwirbel wird am 2. Mai um 18 Uhr im Grazer Viertel Lend mit der Street Gallery eröffnet. Trommelwirbel ertönt bereits um 17 Uhr beim Schlagzeugkonzert - join in!
Im Jahr des ersten Lendwirbels war gar von Prenzlauerbergisierung in den Straßen und Gassen hinter dem Kunsthaus zu lesen. Der Lend ist ein Sehnsuchtsort. Da wurde ein Surfbrett über eine kleine Fontäne montiert, da mietet man sich einen Schreibtisch im Gemeinschaftsbüro, um nicht zu Hause staubzusaugen statt zu arbeiten. Als temporäres, permanentes Happening schafft der Lendwirbel Situationen, die einladen. Gassen, Straßen und Plätze sind nicht mehr einzig flüchtige Durchgangsorte. Der Raum vor der Haustüre entfaltet sinnliche Qualitäten.

Radio FM4
Bizarr und gut zugleich war der Moment im Vorjahr, als sich dieselben Menschen, die auf dem Straßenboden und auf alten Koffern vor der Markthalle am Lendplatz saßen, auf der Leinwand angeschaut haben. Doch ein klein bisschen Stolz dürfen die LendwirblerInnen durchaus zeigen.