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Felix Knoke Berlin

Verwirrungen zwischen Langeweile und Nerdstuff

17. 5. 2011 - 12:02

Das revolutionäre Potential von Anonymous

Steckt hinter Anonymous vielleicht doch ein beachtenswertes Prinzip, eine humanitäre Idee, ein revolutionäres Potential? Schnell, schnell – es muss eine Theorie des Anonymous her!

Anonymous hat revolutionäres Potential. Davon bin ich seit meinem Interview mit der Hamburger Soziologin Carolin Wiedemann überzeugt.

Dazu gleich mehr. Vorweg aber eine Randbemerkung, die es mir angetan hat: Carolin nämlich wies in ihrem Vortrag auf der Re:publica: Subversion und Selbstvermarktung im Netz darauf hin, dass Anonymous, also die Hacktivistenbewegung, die sich die absolute Meinungs- und Redefreiheit zum Ziel gesetzt hat, als ein Backlash gegen den Zwang zur Selbstinszenierung und Vermarktlichung der eigenen Produktivkraft im Internet gesehen werden kann. Dahinter steckt unter anderem das interessante Konzept des Arbeitskraftunternehmers (PDF-Datei): Der arbeitende Mensch ist demzufolge nicht mehr nur Ressource von Arbeitskraft (die in einem Betrieb zu Mehrwert ausgeschlachtet wird), sondern muss diese Ressource, also sich selbst, auch noch entwickeln und zu Markte tragen.

Dieses Konzept von 1997, das man wirklich einmal gelesen haben sollte, scheint derzeit mit Facebook und anderen Selbstvermarktungs- und Selbstbehauptungsnetzwerken eine konkrete Anwendung gefunden zu haben: Das moderne Internet ist die große Selbstausschlachtungsmaschine. Und Anonymous hat sich, bewusst oder auch nicht, drangemacht, dem sozialen Prinzip von Facebook den Boden zu entziehen: nämlich den Repräsentationszwang.

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

Anonymous mag zwar in seiner jetzigen Form verachtenswert, verblendet oder einfach nur relativ egal sein. Aber Anonymous ist eben auch ein tolles Experiment, wie sich Menschen auf ganz neue, vielleicht sogar bis neulich unmögliche Weise zusammentun können. Und das ist das revolutionäre Potential, das ich bislang unterschätzte.

Um das zu erklären, will ich hier versuchen, Carolins Argumentation und meine eigenen Gedanken dazu zusammenzufassen. Ich mache dabei sicherlich Fehler und verkürze zu sehr. Ich denke sicherlich nichts zu Ende und übersehe wichtige Punkte. Aber Anonymous ist eben kein positiver Begriff, sondern ständig im Wandel, eher ein Kommunikations-Prinzip als eine fixe soziale Bewegung.

Ich nutze einfach aus, dass Anonymous ein ständiger Definitionsprozess ist – der weder von innen noch von außen festmachbar ist (und mir deswegen wildes Mitschwimmen ermöglicht). Denn Anonymous stellt nichts dar, wird nicht durch Erklärungen seiner "Mitglieder" definiert und kann auch nicht einfach von einer Beobachterposition aus gegen etwas anderes abgegrenzt werden. Kurz: Was Anonymous ausmacht, darüber muss ständig neu gesprochen werden (und zwar auch hier, bitteschön!)

Kennzeichen von Anonymous

Anonymous stellt sich gegen den Repräsentationszwang.
Anonymous kann - unter anderem dadurch - die Freiheit und gleichzeitig auch Gleichheit seiner "Mitglieder" sicherstellen.
Anonymous ist von innen und außen prinzipiell ungreifbar.

Wenn ich bisher über Anonymous lästerte, dann habe ich diesen typischen Fehler gemacht: Ich bin davon ausgegangen, dass Anonymous das ist, was es tut. Ich habe also nur die Oberfläche betrachtet, angenommen, die Aktionen und Verlautbarungen einzelner sogenannter Mitglieder Anonymous' seien Anonymous. Aber das ist falsch.

Anonymous ist im Grunde ein Kommunikationsprinzip: Es nutzt die technischen Möglichkeiten des Internet, um Menschen anonym miteinander kommunizieren zu lassen – und kann damit die Probleme typischer Kommunikations-Konstellationen zumindest theoretisch abstreifen.

Identität statt Freiheit

  • Gleichheit und Freiheit sind in traditioneller Kommunikation nicht vereinbar.
  • In einer Identität verkörpern sich Sprachrechte
  • Nur wer verantwortungslos ist, kann frei reden

In der traditionellen Kommunikation sprechen Identitäten miteinander. Eine Identität ist all das, was einem Menschen jenseits seiner akuten Handlungen zugeschrieben wird: seine soziale Rolle, die Stereotypen, die aus seiner (angeblichen) Herkunft, seinem Geschlecht,… abgeleitet werden, seine angenommenen Intentionen. Die Identität stellt das Gesellschaftliche einer Person dar. Auf die Identität bezieht sich allgemein die Gesellschaft, wenn sie an ein Individuum herantritt: Indem sie zum Beispiel vergangene Handlungen sanktioniert, die Identität als vertrauenswürdig markiert oder in ihr Handlungsmuster, vorhersehbares, angemessenes Verhalten, installiert.

Was eine Persona im Internet, das ist die Identität in der Öffentlichkeit. Sie ist nicht identisch mit der Person. (Natürlich muss man sich fragen, ob es denn überhaupt einen Menschen jenseits der Gesellschaft gibt. Dazu aber weiter unten mehr ...)

Wer in der Öffentlichkeit spricht, wird immer vor dem Hintergrund seiner Identität interpretiert. Damit kann niemand frei sprechen, weil diese Vorannahmen das Gesprochene verändern, umdeuten, unterschlagen und die eigene Sprache darauf hin ausgerichtet wird: Man sagt nicht, was man nicht sagen soll.

Zum anderen gebiert die Identifikation auch die Verantwortung, die ein Sprechender für das Gesprochene übernehmen muss. Alles, was jemand sagt, wird – nachdem es von den anderen verarbeitet worden ist – wieder seiner Identität zugeschlagen. Die Identität ist damit, zumindest teilweise, nicht unter der Hoheit der jeweils Sprechenden.

Da in unserer Gesellschaft aber nur Identitäten sprechen dürfen (wer keine vollständige Identität hat, ist kein vollständiger Mensch, vielleicht krank, ausgeschlossen, nicht ernstzunehmen) und Kommunikationsinhalte gemäß dem Verantwortungs–, Autoren– und Repräsentationsprinzip nie losgelöst von den Sprechern existieren dürfen, ist freie Kommunikation nicht möglich. Identität schafft Ungleichheit und Unfreiheit.

Noch mehr: In traditioneller Kommunikation schließen sich Gleichheit und Freiheit gegenseitig aus. Wer seine Freiheit nur weit genug ausweitet, beschneidet die Freiheit der anderen. Es können nicht alle ihre Freiheit maximieren, maximale Gleichheit ist nur bei eingeschränkter Freiheit möglich.

Frei sprechen, nur im Internet

Die jeweilige Ungleichheit (also: ungleichmäßige Verteilung von Freiheit) kann positiv oder negativ passieren: In einer Meritokratie oder Gerontokratie werden die mit einer als gut wahrgenommenen persönlichen Vergangenheit – also: Identität – eher ihre Ansprüche durchsetzen können, als Personen, denen, warum auch immer, weniger Sprachkraft zugeschrieben wird.

Anonymous

Bestrafungsmittel Ionenkanone

Im technisch theoretisch unbegrenzten Kommunikationsraum Internet ist das zumindest potentiell möglich: Jeder kann dort sagen, so viel und was er will. Ungleich verteilt ist nur die Aufmerksamkeit, die den einzelnen Sprechern zuteil wird.

So, das alles heißt aber auch, dass Anonymous als Konstrukt selbst keine Identität haben kann. Anonymous ist in jedem Moment nur das, als das es sich gibt. Anonymous lebt durch die ständige Aufführung. In dem Moment, indem Anonymous nichts sagt, ist der öffentliche Körper Anonymous tot.

So eine Perspektive ist natürlich sehr unergiebig, da Anonymous in diesem Fall auch von zum Beispiel nur einer Person öffentlich dargestellt werden kann oder von jemandem, der sich nur als Anonymous ausgibt. Anonymous könnte eine nach innen gerichtete Lüge sein, ein hohler Körper von Anhängern, die eine von ihnen ausgehende Projektion betrachten.

Aktivistische realweltliche Ausstülpung

Anonymous muss deshalb viel mehr als Kommunikationsprinzip gesehen werden, das keinen Ausschluss kennt. Man kann Anonymous "sprechen", selbst wenn man noch nie etwas von Anonymous gehört hat. Wichtig ist, dass es überhaupt Orte gibt, an denen man anonym, gleich und frei sprechen kann. Und das ist eben genau das, was Anonymous gerade in der Öffentlichkeit ist: Der Versuch solche Orte herzustellen und zu sichern.

Anonymous erfüllt derzeit also eine Avantgarde-Rolle seiner/ihrer selbst: Anonymous schafft die Voraussetzungen, überhaupt als Prinzip existieren zu können. Wenn man so will, ist Anonymous derzeit in der Raupenphase. Ist die erstmal überwunden, also existieren geschützte Kommunikationsorte, kann sich die aktivistische realweltliche Ausstülpung Anonymous zurückbilden und sich als Kommunikationsprinzip transzendieren: Wer will, kann dann (wirklich) anonym reden: nicht nur, weil's die technischen Bedingungen dafür gibt, sondern auch weil man's beherrscht: Das Reden ohne Körper, das Denken und Last und Pflicht.

Reality Check

Aber, aber, aber. So viel aber.

  • Aufklärung nötig: Bevor Anonymous tatsächlich einen Freiraum errichtet, könnte die Bewegung zu einem digitalen Lynchmob verkommen, der keine Herrschaften auflöst, sondern sie durch neue, stabilere ersetzt. Deswegen auch mein Ruf zu Anonymous: Die Cyberfeministen können Theorie, können Kritik und verstehen was von Herrschaft. Die könnten euch aufklären.
  • Nur ein Element: Die technischen Bedingungen für anonyme und damit "gleiche" Kommunikation sind natürlich nur eine Voraussetzung, aber keine Garantie für eine hierarchiefreie Kommunikation.
  • Soziale Schranken: Der Zugang zum Internet, zu den entsprechenden Foren, zu den dafür nötigen Gedanken, ist vermutlich sozial ungleich verteilt.
  • Alte Grenzen: Ganz praktisch wird sich die Kommunikation an Zeitzonen und Sprachbarrieren teilen.
  • Der unsichtbare Rüpel: Trittbrettfahrer können (jetzt, in der aktivistischen Raupenphase) immer auf die vermeintlich hinter ihnen stehende Ressource Anomymous verweisen. Nach innen hin können sich Trittbrettfahrer immer als Anonymous ausgeben, mit fremden Federn schmücken und Aktionen im Namen anderer angeblich namenloser lancieren.
  • Spiel mit dem Schatten: Nichtmitglieder von Anonymous können subversiv Schaden zufügen, indem sie sich als Mitglieder oder Dissidenten ausgeben.
  • Vrantwortungslosigkeit: Zuträgliches oder abträgliches Verhalten einzelner wird nicht erinnert und ist nicht sanktionierbar. Das könnte die Bewegung spalten, sie lähmen - oder natürlich, siehe oben, immer lebendig halten: Aufruhr erzwingt Weiterentwicklung.
  • Stiller Ruf: Wie kann Anonymous in der aktivistischen Raupenphase außerhalb von Bestrafungsaktionen aktiv werden? Politische Einflussnahme erfolgt derzeit quasi nur durch Hack-Angriffe, Web-Sabotage und Defamierung.
  • Rechtlosigkeit: Wer kontrolliert Anonymous? Wer entscheidet über den Erfolg und Misserfolg von Aktionen, wer kontrolliert einzelne, dass sie nicht über die Stränge schlagen, wer (innerhalb Anonymous) schützt die Opfer von Anonymous, wer stellt den Kontakt zur nicht-anonymen Institutionen her?
  • Zu viel Druck: Welcher nach innen gerichtete Zwang könnte durch die ständige Pflicht zur Performance entstehen? Wird jede Handlung hohl, weil sie nur dazu dienen könnte, die (ziellose) Bewegung am Rollen zu halten?
  • Unsichtbare Strukturen: Gibt es nicht vielleicht tatsächliche, unsichtbare Hierarchien, die bestimmen, wer tatsächlich etwas bei Anonymous zu sagen hat? Welche Kontrollmöglichkeiten haben Randsteher?

Und so weiter und sofort

Anonymous, das hab ich in den letzten Tagen gelernt, ist vielleicht nicht satisfaktionsfähig, aber die Aufmerksamkeit wert und der Kritik würdig. Immerhin scheint diese Bewegung ganz aktionistisch, aus buntesten Motiven heraus und mit ungewisser Entwicklung etwas geschafft zu haben, das Generationen von linken Theoretikern und Praktikern, naiven Technopredigern und Cyberspace-Hippies wohl nie geschafft haben: Erstens eine praktikable Idee vom hierarchiefreien Raum zu entwickeln (ohne überhaupt zu wissen, was das ist) und zweitens das Internet in seiner Rolle als Medium, Naturschutzgebiet usw. nicht all zu ernst zu nehmen. Immerhin benutzt Anonymous das Netz als Waffe - und verstößt damit gegen Cyber- und Hackerethiken, denen die Datenleitung noch immer engelshaar- und heiligenscheinhell die Weisheit wegglühen.