Erstellt am: 26. 4. 2011 - 19:08 Uhr
Journal 2011. Eintrag 84.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einer Lang-Version eines Texts, der im heute präsentierten Buch Wien geht erscheint, einem Reader der Stadtgeher-Initiative Wild Urb der ich mich, als Stadtgänger seit Geburt, nicht verschließen konnte.
Wer seine Stadt nicht begeht, wird sie schwerlich in ihrer Komplexität erspüren können. Das wird aber auch dem, der das Gehen als Element der Überwindung von Distanzen betrachtet, schwerfallen.
Ich empfehle das Stadtgängertum so wie das gern von Städtern in ihrer Freizeit am Land betriebene sogenannte "Wandern" anzulegen, nur ohne lächerliche Kostümierung und ohne fixe Routenplanung.
Die Eingeborenen finden das ja zurecht absurd und überlassen das von Kindheit an ihren urbanen Verwandten oder doofen Touristen; sie gehen in Wahrheit gar nicht mehr.
Landleute durchschneiden ihre Gegend genauso mit den notwendigsten Wegen, den Routen von A nach B wie der gemeine Stadtmensch das im Normalfall tut.
Interessanterweise findet der touristische Umkehrfall aber nicht statt: der Landmensch ist auch in der Stadt gehfaul. Nach zehn Minuten zu Fuß beginnt schon das Gejammer. Selbst beim Bergretter.
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Der Städter ist also der gängigere Typ des Gehers.
Da er das Gehen samt dem neugierigen Schauen, der Suche nach dem Interessanten, Erhabenen und Erbaulichen jedoch mit dem, was er für die Natur hält, verbindet, ist er arm dran.
Denn all die kultivierten Wald- und Wiesengegenden, die längst gezähmten Berglaufereien und das viele andere domestizierte "an der frischen Luft" enthalten ungefähr so viel "Natur" wie Schönbrunn. Die Gentrifizierung einstiger wilder Landschaften, ihre Umgestaltung zu Quasi-Themenparks hat in Österreich eine Auslastung erreicht, die nur mit der Handy-Dichte erreichbar ist.
Die wirkliche Begegnung mit Unterholz, unberührten Wäldern, und unüberwindbaren Hindernissen passiert nur zufällig, dann wenn man "vom Weg abkommt" und in Gebiete gerät, die nicht einmal ein kleiner Jäger-Steig durchschneidet.
Dort und nur dort findet sich "Natur".
Alles andere ist Zivilisation, so grün sie sich auch verkleidet, so sehr sie auch tut, als wäre sie total zufällig so gewachsen - sie ist gestaltet, von Menschenhand, von Menschen.
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Trotzdem gelten für diese Vorspiegelung von Natur andere Zuschreibungen als für die andere, deutlich offensichtlichere Kulturlandschaft, die urbane.
Obwohl die ja deutlich mehr anbietet, an Interessantem, Erhabenem und Erbaulichem, als es der gezähmte Wald und die geplättete Wiese je können wird, gilt sie, die städtische Kulturlandschaft, als leichter einordenbar: Architektur, Geschichte, ein Spürchen Flair, das ist es.
Das Brimborium, das um die diversen Fleckerl Grün, in denen sich Menschen bewegen um sich "im Wald" zu fühlen, veranstaltet wird, enthält hingegen die gesamte Mystik der Menschheitsgeschichte. Und wir geben uns mit diesem Fake zufrieden, obwohl wir es besser wissen könnten, ja müssten.
Dabei enthält ja nur die Stadt das aufregendste überhaupt: Artgenossen, unendlich viele.
Menschen, die Spezies also, die seit Jahrhunderten/tausenden Kulturlandschaften geschaffen, die Wildnis begehbar gemacht und mit seinen Zeichen übersät hat, im ländlichen wie im urbanen Bereich.
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Bloß: im ruralen Raum findet sich nur ein Bruchteil der Variationen, die dieser Mensch im städtischen Bereich zustande gebracht hat. Dort, und nur dort steht also das Interessante, Erhabene und Erbauliche seinem Ergeher und Erspäher in einem Umfang zur Verfügung, der alle Maße sprengt.
Wer also seine oder auch einfach die nahegelegenste Stadt nicht begeht, wird nicht nur sie schwerlich erspüren können in all ihrer Komplexität, sondern auch das Menschsein, diese Sucht zu gestalten, zu zähmen, zu ordnen, Kulturlandschaften zu gestalten, nicht so recht verstehen können. Und wohl weiter die künstlichen Anlagen im Ländlichen für "Natur" halten, für unbehauene und "echte".
Das klingt zwar harm- und folgenlos, ist aber eigentlich ganz schön gefährlich: wer sich so wenig für seine Art und seine Umgebung interessiert, und aus reiner Faulheit gar nicht mehr reflektiert, wird nämlich auch weiterhin an blauäugigen Retter des Abendlandes, die Kronen-Zeitung und den Hausverstand glauben.