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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

23. 4. 2011 - 23:39

Journal 2011. Eintrag 82.

Die Begrüßungs-Sonne, der Zinsgroschen und andere Wohnungsgeschichten.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich heute keine Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte, und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss, sondern Privates, das - wie alles Private - natürlich auch Gesellschaftliches widerspiegelt.

Es ist mir heute wieder aufgefallen, erstmals seit langem. Wenn ich die Wohnung betrete, dann steige ich direkt in die Sonne. Es ist früher Nachmittag und es ist wie vor Jahren, als ich von der Schule nach Hause gekommen bin: Tür aufsperren und in die Sonne treten. Die scheint in mein Kinder/Jugendzimmer und von dort direkt ins Vorzimmer und spiegelt sich direkt im Fenster neben der Eingangstür. Es gibt keine bessere Symbolik, um daheim willkommen zu sein, als die Sonne.

Mir ist das deswegen nach Jahren wieder aufgefallen, weil ich wieder an einem frühen Nachmittag in die elterliche Wohnung gekommen bin, ohne dort Gast zu sein und abzuwarten, bis man mir öffnet - da übersieht man diesen Willkommensgruß. Und natürlich ist mir der Sonnentritt auch aufgefallen, wenn ich den Job "Blumen gießen und aufpassen" hatte, wenn meine Eltern auf Urlaub waren.

Nur: jetzt, heute war ich achtsamer, was diese Details betrifft. Meine Eltern geben die Wohung auf. Es wird ihnen zu viel, es war ihnen zu groß, sie halbieren, ganz bewusst, ihren Wohnraum und übersiedeln. Wir räumen seit Wochen herum, was das Zeug hält, jedes Stück wird begutachtet, transferiert, entsorgt, meine Eltern, meine Schwester, mein Schwager und ich schließen uns andauernd terminlich kurz, auch meine Freundin wird einbezogen - und dieses Wochenende ist so eine Deadline: alle größeren Trümmer müssen raus. Also hole ich das Zeug, dass sich in einer Ecke des Wohnzimmers zusammengestapelt hat, fast wie von alleine, all die Dinge, die ich übernehme. Und beim Zeug holen, das mit zwei, drei kurzen Spaziergängen (Ich bin vor einiger Zeit eher zufällig wieder in die alte Gegend zurückgezogen, es sind keine fünf Minuten zu Fuß) erledigt war, ist es mir wieder aufgefallen, die Sache mit der Begrüßungs-Sonne.

Ja, es wäre möglich gewesen die Wohnung zu übernehmen, für meine Schwester oder mich, altes Mietrecht und so, und gemeldet waren wir irgendwie eh auch noch. Aber das hätte eines langjährigen Masterplans bedurft und des Willens hier eine Art Familiensitz aufzubauen. Und der fehlte uns.
Nicht weil es irgendwann nötig gewesen wäre da zu investieren und zu renovieren; nicht aus fehlendem Respekt oder fehlender Anerkennung für das, was die elterliche Wohnung in den letzten Jahrzehnten so geleistet hat - das war durchaus eine Menge. Gute Lage, hohe Räume, knarrende Böden und die viele Sonne...

Sondern, weil diese Quasi-Besitz-Geschichte für uns keinen Reiz hat; weil Veränderung ein zentraler Motor ist, weil es ein wichtiger Schritt war aus der Wohnung rauszukommen, um sein eigenes Leben zu kriegen, weil Nesthockerei nicht gut tut und weil diese ländliche Tradition des Hausrechts, diese Schollen-Gläubigkeit im Denken der Blumenaus sehr weit weg ist. Ja, meine Mutter ist zwar auf dem Land geboren, aber in dieser Hinsicht ist sie auch überurban. Hat sie von ihrer Mutter, meiner Oma, einer Frau, die eigentlich in den Zwanzigern in Berlin hätte leben sollen und nicht in den Vierzigern in Niederösterreich.

Es tut also gut, da raus gekommen zu sein, ohne an Sehnsüchten fest zu kleben, die dann gern die Basis für das Reaktionäre bilden.
Und natürlich ist es trotzdem ein Einschnitt, das Bewusstsein, dass es mit Ende April vorbei ist, dann werden die Schlüssel abgegeben, dass dann die Selbstverständlichkeit des Ganges zum sonntäglichen Mittagessen, das so alle zwei, drei Wochen anstand, über Jahre hinweg, wegfällt.
Denn ein Haus, eine Wohnung, die man sein Leben lang kennt, die fühlt, greift und geht sich ganz anders an als alles andere. Die Stufen rauf in den ersten Stock kann ich auch im Stockfinsteren nehmen - etwas, was ich in meinem Wohnhaus noch nicht so hundertprozent draufhabe; da steh ich erst so bei 90, 95%.

Natürlich hat sich die elterliche Wohnung nach dem Auszug meiner Schwester und mir geändert. Unser Zimmer wurde radikal umgestaltet, die neue Wohnzimmer-Garnitur war - weil wir nicht mehr mitreden konnten - von ausgesuchter Hässlichkeit und auch einige andere Entscheidungen, was Möblage, Vorhänge, Kleinkunst oder Küchengerätschaft betraf, zogen eine andere Gefühligkeit nach sich.

Das wirkt sich auch bei der großen Verteilungs-Aktion aus. Was kommt mit ins neue Heim? Was wird aussortiert? Was nimmt meine Schwester, was nehme ich?

Wir sind oft erstaunlich weit auseinander. Klobige Fauteuils, die die Eltern eh auch nicht mitnehmen, aber gut untergebracht sehen wollen, finden kein Interesse (auch nicht das der Nachbarn), dafür wollen sie ganz wunderbare dreibeinige Hocker schon fast ohne zu fragen zum Brennholz schmeißen.

Einzelnes aus den 50ern, 60ern, teilweise auch aus den 70ern ist zu putzig um wahr zu sein, anderes aus den 80ern und 90ern das schiere Grauen. Und irgendwie sehen meine Eltern das meistens genau anders herum.
Ich frage mich (und ich kenne die Antwort schon), ob das allen und jedem, also auch mir, droht: die völlige Fehleinschätzung für die jeweils zeitgenössische Bedeutung von Möbeln, Kleidung, Geschirr, Wandbehang und anderem Kleinzeug.

Es wird irgendwann jeden treffen, wie auch bei Musik. Dinge, die in ihrem Kontext, in ihrer Zeit toll und wichtig waren, heute aber nur noch museal, mit Erklärung und Konnotation funktionieren, sind den anderen Dingen, die aus irgendwelchen Gründen dann wieder in die neue Zeit passen, oder nie so richtig unmodern waren, oder einfach so simpel und funktional gemacht sind, dass sie immer klappen, unterlegen.

Meine Schwester und meine Freundin sortieren gezielt und mit sicherem Blick in Minutenschnelle das aus, was ihnen gefällt, men Schwager zögert ein wenig länger und lässt sich durchaus auch Dinge näherbringen und ich bin einerseits Sofort-Entscheider (Sicher nicht!), lass mir aber andererseits dasselbe Klump beim nächstenmal reindrücken, meist weil es einen sentimentalen Wert hat - alte Dosen, unmögliche Kaffeeservice und das ganze Glaszeug natürlich.

Beim Zinsgroschen habe ich sofort zugesagt. Der Zinsgroschen ist zwar düster und zu groß und bedrohlich, aber der muss mit. Meine Mutter hat seine Übersiedlung strikt untersagt - sie hasse den dunkel-düsteren Druck des alten Tizian, ließ sie verlauten, da konnte mein Vater noch so viele Flötentöne auffahren.
Den Zinsgroschen hat er noch von seiner Mutter; es war in den 50ern üblich, Drucke von klassischen Meisterwerken museal zu rahmen und aufzuhängen, Kulturimport ins Heim. Die Infantin von Velasquez hing ewig lang im Vorzimmer, der Zinsgroschen musste irgendwann runter.

Tizians Zinsgroschen

tizian

Meine Mutter hat schon recht: es ist ein bedrohlich-düsteres Bild: der blasse und feine Herr Fürst, der vom wiesenwettergegerbten Bauern das Geldstück entgegennimmt, den Zehent eben, da schwingt die ganze Symbolik der Klassengesellschaft mit. Ich denke, in ganz frühen Jahren hat mir mein Vater, ein bewusster Vertreter seines Standes, des Druckerei-Gewerbes, auch anhand dieses Bildes erklärt, was das bedeutet: Arbeiterklasse.

Mittlerweile haben sich die alten Klassen aufgelöst und der Raubtier-Kapitalismus hat neue geschaffen - die brauchen eine andere Darstellung; dafür geht sich Tizians bildliche Metapher nicht mehr aus.

Mein Vater hat ihn gut verpackt, er steht bereit für den Abtransport, als ich heute in die halbleere elterliche Wohnung komme. Die zwei Dreibeiner, Kleinkram in die Reisetasche und noch ein paar Bilder und Drucke in der Mappe - ich lade mir ein bissl zuviel auf für diese Tranche und als Resultat gleitet mir der Tizian aus der Hand und rodelt fast die gesamte Treppe runter.

Der Herr Nachbar, der die Bierflasche immer an der Seite ansetzt, wie Popeye die Spinat-Pfeife, kommt zufällig vorbei und fängt das Bild auf - es ist nix passiert, kein Wunder bei der sorgsamen Verpackung. Ihm, stellt er belustigt fest, habe die Frau Mutter das schöne Bild ja nicht angeboten, bei anderem Kleinzeug habe er auch schon zugeschlagen. Ich glaube eh nicht, dass der Zinsgroschen in sein psychedelisches Heim gepasst hätte. Ich greife ihn, die Mappe, die Tasche und die zwei Dreibeiner und trage sie raus aus dem Elternhaus. Draußen scheint die Sonne.