Erstellt am: 24. 4. 2011 - 13:33 Uhr
Radioactive Men (and Women)
Nach dem Beben in Japan und der Kernschmelze in Fukushima 1 haben Atomkraftgegner die Demoskopie wieder auf ihrer Seite. Niemand will Atomenergie und die Anti-Atom-Bewegung freut sich über den frischen Zulauf aus der Bevölkerung. Vor wenigen Monaten sah das noch ganz anders aus: Die Gefahren der Atomenergie wurden in den Medien kaum thematisiert und galten als Relikt aus den 80er Jahren.
In Deutschland hat die Atomkraft im Zuge der Klimadebatte sogar einen leichten Imagewechsel erlebt: Atomkraftwerke sollten als Brückentechnologie den Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien ebnen. Die CDU bezeichnete Atomkraft sogar als Ökoenergie. Und selbst manche Grüne, wie Hubert Kleinert, spekulierten öffentlich, ob man den geplanten Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland und das Abschalten der AKWs nicht doch noch mal verschieben sollte. Immerhin wollte man unabhängig sein von den Erdgaslieferungen aus Russland und die CO2-Bilanz eines Atomkraftwerks ist nunmal deutlich attraktiver als die eines Kohlekraftwerks im Ruhrgebiet.
Wie die Sonne über Fukushima
Doch dann kam Fukushima und hat uns CO2-Emissionen, den Klimawandel und die Erderwärmung vergessen lassen. Seit Mitte der Woche ist das Gebiet rund um das havarierte Atomkraftwerk vollkommen abgeriegelt. Ohne staatliche Aufsicht oder Sondergenehmigung, etwa wenn man im Atomkraftwerk Fukushima 1 arbeitet, darf sich niemand in der errichteten 20km-Sperrzone rund um das AKW aufhalten. An die 80.000 Menschen haben ihre Heimat verlassen müssen und leben in Notunterkünften. Nach der anhaltenden Kritik, die 20km-Sperrzone sei zu gering bemessen, werden nun auch drei weitere Ortschaften außerhalb der Sperrzone evakuiert. 33 Milliarden Euro hat die japanische Regierung als Sonderetat für die Folgen des Erdbebens und der Katastrophe in Fukushima zur Verfügung gestellt - vorerst. Experten gehen davon aus, dass bis zu 300 Milliarden Euro benötigt werden, um die Schäden in Japan zu beseitigen.
EPA/DENNIS M. SABANGAN
Am Freitag hat sich Tepco-Chef Masataka Shimizu persönlich beim Gouverneur der Provinz Fukushima, Yuhei Sato, für den Unfall in Fukushima 1 entschuldigt. Täglich werden neue Lecks gefunden, durch die radioaktive Strahlung in die Umwelt dringen kann, doch bei Messwerten von 1000 Millisievert pro Stunde und mehr ist es für die Arbeiter_innen viel zu gefährlich, das Problem zu beheben.
Deutschland einig Antiatomland
Für Atomkraftbefürworter in Deutschland heißt es jetzt still sein und durchhalten, bis Gras über das Atom gewachsen ist. Das Argument, Atomenergie sei die Brückentechnologie für erneuerbare Energien, das direkt aus dem PR-Büro der Atomlobby zu stammen scheint, zieht nicht mehr. Denn eine Brücke muss so lange standhalten, bis ein neuer Weg gebaut ist, also erneuerbare Energien geschaffen wurden und hierfür investieren die Energiekonzerne immer noch zu wenig Geld. Der perfide Versuch, die Folgen radioaktiver Strahlung auf Mensch und Umwelt in der Gesellschaft auszublenden, zum Beispiel aber gerade auch durch eine Wortwahl wie "Brückentechnologie", ist gescheitert, wenn uns tagtäglich in den Medien die Hilflosigkeit der Menschen in Japan vor Augen geführt wird.
Kernraftwerk Isar, seit 1979 in Betrieb.
Block 1 ist nahezu baugleich mit drei anderen deutschen Kernkraftwerken, nämlich Kernkraftwerk Brunsbüttel (bei Hamburg), Kernkraftwerk Philippsburg Block 1 und Kernkraftwerk Krümmel, sowie mit dem österreichischen Kernkraftwerk Zwentendorf, das nach einer Volksabstimmung nie in Betrieb ging.
E.ON Kernkraft GmbH
Armin Kübelbeck, CC, galerie.best4sports.de
Auch Jürgen "Dino" Großmann, Chef des deutschen Energieriesen RWE und klarer Befürworter der Atomkraft, hätte sich etwas ruhiger verhalten sollen. Noch im Jänner sprach er sich gegen den Ausstieg aus der Atomenergie und für eine Gesamtlaufzeit von 50 bis 60 Jahren für deutsche Atomkraftwerke aus, weil erneuerbare Energien in den Wintermonaten zu wenig Strom liefern würden. Die Atomkraftwerke in Deutschland sind längst abbezahlt und abgeschrieben, täglich werfen sie einen Millionengewinn ab. AKWs sind zentraler Bestandteil der energiepolitischen Strategie von RWE. Dennoch verwundert es, dass RWE als einziger der vier großen Energiekonzernen in Deutschland gegen das Atom-Moratorium der Deutschen Bundesregierung klagt und damit einen herben Imageschaden erleidet. Im Zuge des Moratoriums sollen alle 17 AKWs in Deutschland einem sogenannten Stresstest unterzogen werden und überprüft werden, ob die Sicherheitsstandards eingehalten werden. Hierfür sind die sieben ältesten Atomkraftwerke für drei Monate abgeschaltet worden. Letzten Donnerstag kam es bei der RWE-Hauptversammlung zu einem Aufstand der Aktionäre. Sie haben Jürgen Großmanns stoische Sturheit in seiner Pro-Atomenergie-Haltung kritisiert. Doch Großmann entgegnete nur, mit ihm wäre ein Ausstieg aus der Atomenergie nicht zu machen.
25 Jahre Katastrophe von Tschernobyl
Bei der ganzen Diskussion um einen Ausstieg aus der Atomenergie muss man sich fragen, ob wir aus der Geschichte nicht lernen können, nicht lernen wollen. In der Nacht am 26. April 1986 ereignete sich der bislang schwerste atomare Unfall im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Im graphitmoderierten Reaktor des Typs RBMK-1000, eine veraltete Sowjet-Bauart, mit der man auch waffenfähiges Plutonium gewinnen kann, kam es zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der in weiterer Folge zur Kernschmelze und zum Super-GAU führte.
25 Jahre Katastrophe von Tschernobyl
- Wir brauchen keinen Gedenktag, um an die Folgen von Atomenergie erinnert zu werden (Alex Wagner)
- Interview mit Atomexperten Reinhard Uhrig von Global 2000 (Mirjam Unger)
- Who To Trust on Nuclear Risks? (Chris Cummins)
Bezeichnet der GAU den größten anzunehmenden Unfall, so ist der Super-GAU ein noch größerer, bis zum 26. April 1986 unvorstellbarer Unfall, der sich in einem Atomkraftwerk ereignen kann. Eigentlich hätte Block 4 des Lenin gewidmeten Kernkraftwerks nur einer Übung standhalten sollen. Im Kernkraftwerk Tschernobyl sollte der vollständige Stromausfall im Reaktor simuliert werden. Doch Sicherheitsmängel und menschliche Fehler führten zur Katastrophe. Um 1.30 Uhr wurde durch eine Explosion der 1000 Tonnen schwere Deckel des Reaktorkerns und das Dach des Reaktorgebäudes zerstört. Unmengen an radioaktiven Stoffen wie zum Beispiel die Isotope Caesium-137 oder Iod-131 wurden freigesetzt und in der Atmosphäre verstreut.
Heavy Rain
Smith / Beresford
Durch die Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl und dem Graphitbrand wurden die radioaktiven Stoffe hoch in die Luft geschleudert und über weite Teile Europas verstreut. Neben der Ukraine und Weißrussland, an deren Grenze das Atomkraftwerk von Tschernobyl steht, haben die radioaktiven Niederschläge vor allem Österreich und Südostbayern getroffen. Hier wurden massiv erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die Bevölkerung wurde angewiesen, Türen und Fenster zu schließen und kein frisches Obst und Gemüse zu essen.
Meine Eltern können sich noch gut an Tschernobyl erinnern. Eine Woche haben sie sich in ihr Haus eingesperrt und sich von konservierten Lebensmitteln aus Gläsern und Dosen ernährt. Verängstigt haben sie auf neue Informationen gewartet, doch die kamen nicht. Stattdessen hat der bayerische Umweltminister Alfred Dick vor laufenden Kameras kontaminierte Molke gegessen, um zu demonstrieren, dass radioaktives Caesium-137 gar nicht so schädlich sei. "Des tut mir nix!", hat er dabei in die Kamera gegrinst. Einen Geigerzähler wollten sich meine Eltern nicht kaufen, nachdem die Medien behauptet haben, dass das hochkomplizierte technische Geräte seien, die nur von echten Wissenschaftlern bedient werden könnten. Nach einem halben Jahr haben sie sich mit Tschernobyl arrangiert, die Gefahren verdrängt und versucht, ihr Leben in Normalität zu leben. Inklusive Pilzen aus dem Bayerischen Wald und Wildschweinbraten.
Generation Tschernobyl
Merle Hilbk konnte die Katastrophe von Tschernobyl nie verdrängen. Sie wurde durch Tschernobyl politisiert, als Schülerin an einem deutschen Gymnasium von der Lethargie in der Jugend befreit. Plötzlich gab es etwas, wogegen sie war. Geprägt von der Angst, verstrahlt zu werden, ging sie auf deutsche Anti-Atom-Demonstrationen und protestierte gegen AKWs. Mittlerweile arbeitet Merle Hilbk als freie Journalistin und berichtet für den Spiegel und die Zeit aus Russland uns Osteuropa.
Eichborn Verlag
Ihr aktuelles Buch "Tschernobyl, Baby - Wie wir lernten, das Atom zu lieben" ist vor den Ereignissen in Fukushima entstanden. Sie wollte die Gefahren der Atomenergie wieder an die Öffentlichkeit tragen. Zwei Jahre lang ist sie dafür durch die Ukraine und Weißrussland gereist. In ihrer Reisereportage erzählt Merle Hilbk von ihren Erlebnissen in der atomaren Sperrzone, die von der Regierung Weißrusslands als radioökologisches Naturschutzgebiet bezeichnet wird, weil sich dort viele Wölfe, Elche und Hirsche angesiedelt haben und von den Menschen, die sich an die Radioaktivität in ihrem Dorf gewöhnt haben. Sie unternimmt eine "All-Inklusive-Zonentour" zum explodierten Reaktorblock 4 des AKW Tschernobyl, füttert mutierte Riesenfische, besucht die Geisterstadt Pripjat und isst Schaschliky mit Tadschiken, die froh sind, in der Sperrzone ein neues Zuhause gefunden zu haben. Dabei wird die Autorin immer von Mascha begleitet, einer jungen Weißrussin, die sich keine Gedanken über die radioaktive Strahlung macht, weil sie Teil ihres Lebens ist.
"Momentary" von Delphic. Das Video wurde in in Pripjat und Umgebung gedreht.
Weitere Buchempfehlungen
Merle Hilbk kämpft in ihrem Buch für Gerechtigkeit. Sie kritisiert Alexander Lukaschenko, Präsident von Weißrussland, für sein Vorgehen, immer mehr radioaktiv verseuchte Zonen für bewohnbar zu erklären, damit Weißrussland keine Pflegegelder, Arztrechnungen und Frühpensionen für die Menschen am Rande der Sperrzone zahlen muss. Während die Ukraine die Katastrophe von Tschernobyl mit Touristen-Reisen zum Unglücksreaktor vermarktet, will Weißrussland den Super-GAU nur so schnell wie möglich vergessen. Merle Hilbk bezeichnet Tschernobyl vor allem als soziale Katastrophe, an der Beziehungen, Familien und ganze Städte zu Grunde gegangen sind.
Beim Lesen merkt man, dass die Autorin für das Thema Atomkraft brennt. Redundant schreibt sie immer wieder von den Folgen der Verstrahlung, der absichtlichen Desinformation der Anwohner_innen, sie berichtet von entstellten Frauen und Kindern mit Nasenbluten und setzt ihre Erlebnisse immer in Kontext zu ihrer eigenen Gefühlswelt. "Tschernobyl, Baby" ist für Merle Hilbk wohl auch eine Möglichkeit, ihren Drang, gegen Atomenergie aktiv zu werden, nachzukommen und ihr eigenes inneres Tschernobyl zu verarbeiten.
Carl Montgomery, flickr.com/photos/83713082@N00
Doch auch ohne Merle Hilbks Buch wird Tschernobyl nie vergessen werden. Zumindest nicht in der ukrainischen und belarussischen Bevölkerung, die dutzende Freunde, Familie oder Verwandte verloren haben. Über die tatsächlichen Todeszahlen von Tschernobyl wird bis heute verbittert gestritten. Die offizielle Zahl der Todesfälle liegt laut Atomenergiebehörde bei 4.000. Definitiv sind knapp 50 Menschen an der Strahlenkrankheit gestorben, zusätzlich rechnet die WHO in den am stärksten verstrahlten Gebieten mit etwa 9.000 Krebserkrankungen.
Im Dezember 2000 wurde der letzten Reaktorblock in Tschernobyl abgeschaltet. Der havarierte Reaktorblock 4 ist durch einen provisorischen, durchlässigen "Sarkophag" abgedeckt, einer meterdicken Schutzhülle aus Beton und Stahl. In seinem Inneren wird noch jahrelang die radioaktive Masse gegen das Vergessen werden anstrahlen.