Erstellt am: 26. 4. 2011 - 12:54 Uhr
Die unsichtbare Brücke
"Sie war kein Kind mehr. Sie war jetzt alt genug, um die ganze Geschichte zu erfahren."
So endet der 815 Seiten schwere Erstlingsroman "Die unsichtbare Brücke" der amerikanischen Autorin Julie Orringer, ein hoch gelobtes Epos, das dieser Tage in 15 Ländern erscheint. "Die ganze Geschichte" bedeutet: Die Familiengeschichte ihrer jüdischen, ungarischen Großeltern. Die Enkelin wollte alles wissen - und dokumentieren. Orringer vollbringt dabei das Kunststück, die lebendigen Gesichter und Geschichten ihrer Familie mit den befremdlichen Schwarz-Weiß-Fotografien von Todesmärschen und Leichenbergen zu verschränken. Ein verstörendes, stark berührendes Unterfangen, das Orringer 1937 in Budapest am Bahnhof beginnen lässt.
Paris, mon amour
KiWi
Der junge Andras Lévi (Orringers Großvater) steigt in den Zug nach Paris, um dort Architektur zu studieren. Mitten in den Dreißiger Jahren ist Paris eine Stadt voll pulsierender Lebensfreude, durchzogen von einer übermütigen Kunstszene. Naiv und neugierig stolpert der junge Ungar ins Studentenleben.
"Am Morgen erwachte er auf einem Sofa unter einem Fenster, die Augen mit einem Seidenhemdchen bedeckt, sein Kopf ein großer Wattebausch, das Hemd aufgeknöpft, die aufgerollte Jacke unter dem Kopf. […] Andras starrte an die Zimmerdecke, wo sich das florale Muster eines Stuckmedaillons um den geriffelten Messingbaldachin einer Deckenleuchte wand. Ein Gewirr goldener Zweige wuchs vom Baldachin nach unten und trug kleine, flammenförmige Glühbirnen. Paris, dachte er und stützte sich auf die Ellbogen."
Andras lernt die Liebe seines Lebens kennen - die Tanzlehrerin Klara. Doch die überschwänglichen ersten Monate werden schlagartig unterbrochen: Der zweite Weltkrieg beginnt. Es ist eine Zäsur, die Europa verändern wird. Der verliebte Andras deutet sie nur als schwierige Phase. Sein Visum wird nicht verlängert, gemeinsam mit Klara muss er nach Ungarn zurück, und auch dort werden die Repressalien gegen jüdische BürgerInnen immer heftiger.
Überleben. Und leben.
Andras muss zum Kriegsdienst, wird aber nicht eingezogen, weil der ungarische Verteidigungsminister es für zu gefährlich hält, Juden mit Waffen auszurüsten. Die Juden kommen zum Arbeitsdienst. Straßen bauen für den Krieg, das ist ihre Aufgabe. Der Arbeitsdienst sei "nicht darauf aus, einen umzubringen, er quetsche einen nur so lange aus, bis man sich selbst umbringen wollte". Es gilt das Prinzip "Vernichtung durch Arbeit".
Statt in Paris Opernhäuser zu entwerfen, schaufelt sich Andras mit fünfzig anderen jüdischen Männern durchs Ukrainische Gebirge. Die zermürbenden Jahre, die folgen, sind ein gelungenes Zeugnis des Zerfalls. Schicht für Schicht löst sich alles auf: Bedürfnisse, Werte, alles Menschliche. Bis nur noch ein Körper übrig bleibt, der essen, trinken, schlafen möchte.
Weitere Buchrezensionen
"Die unsichtbare Brücke" zu lesen bedeutet, den Protagonisten voraus zu sein. Die Autorin belegt ihre Leserschaft mit dem Fluch, die Zukunft zu kennen - man weiß, dass es noch viel schlimmer kommen wird, als es sich diese jungen Menschen überhaupt vorstellen können. Noch haben sie keine Ahnung, noch keimt immer wieder die Hoffnung. Die Hauptfigur Andras, ihren Großvater, stattet Orringer mit ungebrochenem Optimismus aus. Überleben und leben, das ist sein Ziel.
Um der eigenen geistigen Zersetzung zu entfliehen, beginnt er beispielsweise eine Zeitung zu verfassen: "Die Schneegans", ein zutiefst zynisches Werk. Abgesehen von Kriegsnachrichten, bringt die Zeitung Wettervorhersagen (Montag: Schnee. Dienstag: Schnee. Mittwoch: Schnee.). Oder: eine Moderubrik. (Bericht von der Modeschau zu Sonnenaufgang: Die träumenden Arbeitsmänner stellten sich in schicken Anzügen aus grober Wolle auf, der gefragteste Stoff dieses Winters; Mangold Bela Kolos, oberster Modezar von Budapest, sagt voraus, dass sich dieser malerische Stil in null Komma nichts in ganz Ungarn durchsetzen wird.). Genauso wie Liebesratgeber, Reisewerbung oder die beliebte Sportseite (Die goldene Jugend Transsilvaniens liebt die sportliche Betätigung. Gestern um fünf Uhr in der Früh war der Wald voller junger Menschen, die sich beim momentan beliebtesten Zeitvertreib amüsierten: Schubkarrenfahren, Schneeschaufeln und Baumfällen).
Holocaust in Ungarn
Von den 825.000 Personen, die in Ungarn von 1941 bis 1945 lebten und als Juden angesehen wurden, überlebten nur 260.000 die Kriegsjahre. Mehr als zwei Drittel starben im Holocaust. Diese Fakten stellt Julie Orringer (wie vieles andere ihrer ausführlichen Recherche) in den Hintergrund - sie sind das Bühnenbild für die persönliche Erzählung. Ihre Hauptfiguren sind gebildet, zitieren aus Zeitungen, liefern uns durch ihre Gespräche am Mittagstisch eine Lehrstunde in politischer Geschichte. Paris und Budapest dienen als opulente Schauplätze, Österreich wird zur Durchreisestation, der Studienaufenthalt des Bruders nimmt Italien mit ins Visier. Und so wird "Die unsichtbare Brücke" auch zu einer Darstellung der Umbrüche in Europa während des zweiten Weltkriegs. Julie Orringer ist damit ein Meisterstück gelungen. Eine Empfehlung, fraglos.