Erstellt am: 21. 4. 2011 - 18:00 Uhr
Journal 2011. Eintrag 80.
2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.
Hier finden sich das ganze Jahr über Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einem sehr losgelösten Pamphlet zu den Ergebnissen des aktuellen EU-Bildungsbericht.
"Österreich stürzt bei Lesekompetenz ab", titelt der Hausmitteiler während der Boulevard daraus ein "Jeder dritte Schüler kann nicht lesen!" macht.
Komisch, da fehlt doch etwas.
"Jeder dritte Schüler kann nicht lesen, und wir sind schuld!" etwa wäre ehrlicher und wahrheitsgetreuer.
Denn es geht natürlich nicht ums pure Lesen "Mimi und Mama gehen in den Park", das schaffen sie (fast) alle - die Problemzone heißt "Sinnerfassendes Lesen". Also nicht nur lesen können, sondern es auch verstehen. Und das geht natürlich nur, wenn Texte auch Sinn haben - was im Fall des Boulevards sehr selten vorkommt. Insofern...
Andererseits ist dann auch wieder etwas zuviel in dieser Überschrift: "Jeder dritte Schüler kann nicht lesen!".
Ich plädiere für ein "Jeder Dritte kann nicht lesen!". Ich denke nämlich, flächendeckende Praxistests würden belegen, dass jeder dritte Österreicher, egal welchen Alters nicht sinnerfassend lesen kann.
Denn: woher haben denn die lieben Kleinen ihr Unverständnis für Zusammenhänge? Aus der Schule oder doch eher aus dem Elternhaus?
Andererseits genügt "Jeder dritte Schüler kann nicht lesen!" auch wieder gar nicht den Ansprüchen der Wahrheitsfindung - da fehlt der Nachsatz zu "kann nicht lesen", nämlich: "und ist auch noch stolz darauf!"
Sinnerfassendes Lesen als endangered species
Zumal es ja eine gesellschaftlich höchst förderliche, dem Nixwissen, Nixlernen, Nixlesen und Sich-Nix-Scheißen aufgeschlossene, positive Stimmung dazu gibt. Bildung, Lesen, Ausdrucksfähigkeit, das ist uns bitte sehr egal, wichtig ist doch was anderes: Beziehungen pflegen, Gschichtln druckn, Gschäftln machen, Konsenssaufen, 15 minutes of fame, die in allererster Linie durch gutes Aussehen und gefällige Sprüche zustande kommen.
Außerdem gibt es eine dezidierte politische Vertretung dieser Basis-Ideologie der österreichischen Mehrheitsgesellschaft, die Rechtspopulisten. Die verabscheuen und hassen die kritische Intelligenz, den Eigenbrötler; und sie haben außerdem eh die Schuldigen für alles, also auch die eigene Blödheit und die der Kinder, gefunden: die Ausländer und die, die die verteidigen, also die Oberg'scheiten, die die wissen, dass diese Schuldzuweisung ein aufgwärmter Topfen ist.
Logischer Schluss: wenn die Gscheiten so gemein sind und die Bösen, also die Ausländer schützen, isses doch viel besser blöd zu sein und es auch zu bleiben. Zumal es sich in einer Mehrheit viel angenehmer aneinanderkuscheln lässt.
Angst vor kritischem Potenzial
Natürlich ist diese "Haut die Streber!"-Bully-Kultur auch in den anderen Parteien stark vertreten. Deswegen gehn sich dann ja auch die Mehrheiten aus, die gegen all das herumsticheln, was dann bei Pisa-Tests und anderen Bildungskatastrophenmeldungen lippenbekenntnismäßig eingefordert wird.
Niemand aus dieser Blödhalte-Mehrheit hat ernsthaftes Interesse an besser gebildeten und ausgebildeten Menschen, die womöglich aus einer amorphen und leicht zu manipulierenden Masse ein junges kritisches Potenzial formen. Wo käme man da hin! Tunesische, ägyptische, portugiesische Verhältnisse, Nein Danke! Eine neue junge Intelligenz, die dann Revolten anzettelt, jössasna!
Außerdem ist das mit dem Sinnerfassen nicht sooo wichtig. In den technischen Sparten ist ja alles nicht so schlimm. Fürs Verfassen von Bedienungsanleitungen wird's schon reichen.
Schuld wäre sowieso der "Computer", das Handy. Ja, es würde viel geschrieben, SMS, Facebook etc., aber alles nur Kurzformate, alles nur Schein, alles nur Oberflächen.
Die Koalition aus Verblödern und Zulassern
Das sind die Zeigefingerzeige der Erwachsenen für die illiteraten Schüler. Dass es in ihrer Welt genauso zugeht, dass auch die Nicht-mehr-Schüler nur mit Kürzeln kommunizieren, sich nur in Scheinwelten und an Oberflächen bewegen, das wird verdrängt.
Dass diese (inexistente) Vorbildwirkung von seit Jahrzehnten illiterater werdenden Elterngenerationen, von der Koalition aus Verblödern und Sich-Verblöden-Lassern die aktuellen Ergebnisse geradezu diktiert hat, wird sachte beiseitegeschoben.
Dann doch lieber Sündenböcke benennen, Hauptsache, es sind andere, irgendeine Technologie am besten.
Das sinnentleerte Medien-Geschwätz des Mainstreams kann nicht zur Sinnerfassung dienen - auch deshalb lehnen die Jungen es ab, sich damit zu beschäftigen.
Und wenn sie dann auch noch von Instrumentalisierern aller Preisklassen, von politischen und ökonomischen Abgreifern mit Locksprüchen, die sie von jeder Schuld freisprechen abgeholt werden (die einen in die politische Xeniophobie und den demokratiefeindlichen Extremismus, die anderen in die blöd-bunte kapitalistische Warenwelt in der der Wert der Menschen nicht über Wissen oder Können, sondern über Status und Besitz definiert wird), dann wird auch der Nachwuchs der Mehrheitsgesellschaft keine Notwendigkeit darin erkennen, sich durch bessere Bildung, durch nachhaltigeres Nachhaken, durch sinnerfassendes, also per se kritisches Denken vom aktuellen Mainstream abzusetzen.
Prekaristan törnt niemanden an
Der Anreiz dafür ist aktuell gleich Null - denn in Prekaristan will keiner gerne leben.
All das führt dazu, dass sich ganze gesellschaftliche Gruppen aus dem Hoffnungsszenario einer Aufstiegsmöglichkeit verabschieden und bewusst in ihrer Schicht, ihrer Klasse steckenbleiben. Und dann können Kinder von Eltern, die nicht sinnerfassend lesen können (und das sind locker 35%, in einzelnen Gebieten sich über 50%), das dann eben auch nicht. Wozu auch?
Denen ist dann auch der Zynismus der Dummmacher egal, die ihnen vorwerfen, was sie selber verbockt haben. Weil sie wissen, dass die am nächsten Tag eine andere Kuh durchs Dorf treiben; und weil sie wissen, dass sie als Mehrheitsgesellschaft politisch irgendwie abgeholt werden müssen, dass man sich nach ihnen richten muss - und nicht nach den paar Prozent Studenten-Trotteln, die sich den Arsch für Nichts aufreißen; weil es auch für sie deutlich zu wenig Zukunfts-Chancen gibt.
Ein Drittel kann nicht lesen - und es ist egal, weil man mit Lesen-Können eh auch nichts ändern können würde.