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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

18. 4. 2011 - 21:13

Journal 2011. Eintrag 78.

Ein Wurmloch namens "Twin Peaks". Zum Rerun der Mutter aller TV-Serien, dem stilprägenden Meisterwerk von David Lynch, auf arte.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und zuletzt 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag als Anregungs- und Denkfutter, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich das ganze Jahr über Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einer Ode an die TV-Serie schlechthin. Twin Peaks wird ab morgen Dienstag auf arte wiederholt. Das ist die offizielle DVD zur Serie.

Twin Peaks funktioniert wie ein Wurmloch. Die nur über zwei Seasons gehende TV-Serie hat alles, was in diesem Genre davor existiert hat, eingesaugt, verdichtet, abstrahiert und zwei Jahre später in eine neue Galaxis gespuckt. Seitdem ist logischerweise eine relevante Serie ohne Twin-Peaks-Einfluss undenkbar.

Klar, vorher gab es auch Leben am Planeten Fernsehen: viel guter Witz, viel Satire, viel Schmalz und viel geschickt eingesetzte Dramaturgie, es gab Gruseliges aus der Twilight Zone, es gab Dallas und Denver, es gab M.A.S.H. und politische Implikationen und es gab Miami Vice und eine neue Ästhetik.
Aber nichts davon reizte die Grenzen wirklich aus - das blieb einem Filmemacher, nämlich David Lynch vorbehalten. Lynch hatte gerade Blue Velvet hinter sich und arbeitete an Wild At Heart, war also auf seinem Höhepunkt. Mark Frost, ein Regisseur der Erfolgsreihe Hill Street Blues, brachte Lynch auf die Fernsehspur und gemeinsam entwickelten sie Ende der 80er eine Reihe, in der das Ungewöhnliche und Verrückte, das Entkörperlichte und das Befremdliche ebenso ihren Platz fanden wie klassische Klischees und das Spiel damit. Twin Peaks ist eine Whodunnit-Story, bei der nichts so ist wie es scheint; ohne allerdings in öden Eskapismus auszuarten - dazu legen Lynch/Frost ihren Finger allzu tief in die verzerrte Wahrnehmung unserer Gesellschaft. Keiner ist unschuldig.
Trotz aller Übersinnlichkeit und dramaturgischer Hakenschlagerei - nichts bleibt so real wie die kleine Welt im Schaubild Twin Peaks.

Alle sind sie Special Agent Dale Cooper

Twin Peaks-Trivia ohne Ende: * Sheryl Lee, die Darstellerin von Laura (und Cousine Maddy) ist in Augsburg geboren und war mit David Duchovny zusammen. * Der junge David Duchovny ist als Frau, als FBI-Agent Denise Bryson zu sehen. * Mädchen Amick (Shelley) ist Duchovnys unerreichbarer Love Interest Janie Jones in Californication. * Eric Da Re (Bösewicht Leo Johnson) ist der Sohn des berühmten italo-amerikanischen Schauspielers Aldo Ray, und er war Lynchs casting assistant bei Wild At Heart.
* Lara Flynn Boyle (Donna) hätte fast die Rolle von Ally McBeal bekommen und wäre fast Carrie Bradshaw geworden. Zweimal ziemliches Pech also. * Die damals 15jährige Alicia Witt und die damals 20jährige Heather Graham haben ihre ersten größeren Auftritte. * Warren Frost, der den Pathologen Dr. Hayward spielt, ist der Vater von Produzent Mark Frost. * Die Log Lady (Catherine E. Coulson) ist im echten Leben die Frau von Jack Nance, der Pete Martell spielt (den Mann von Catherine, dem Typ, der die Laura-Leiche findet). * Mary Jo Deschanel, die seine Frau (Donnas Mutter, die im Rollstuhl) spielt, ist im echten Leben die Frau von Caleb Deschanel, einem der Regisseure der Reihe, und die Mutter von Emily Deschanel (Bones). * Einer der anderen Regisseure, Stephen Gyllenhaal, ist der Vater von, genau, Maggie und Jake. * Regie führten auch Diane Keaton (!) und der Deutsche Uli Edel (Christiane F.). * Lynch selber hat sechsmal Regie geführt, Frost einmal. Das Buch haben die beiden für die ersten drei Folgen geschrieben, Frost dann noch weitere achtmal, Lynch nur noch einmal. * Die Idee zur Figur des "Bob" kam Lynch, als er Requisiteur Frank Silva in einer fertigen Kulisse werkeln hörte. Als Silva später einmal versehentlich im Spiegel einer Innenszene zu sehen war, benutzte Lynch das und besetzte sein Crew-Mitglied. * Es gibt gleich zwei Bob&Mike-Paare: die Dämonen und die High-School-Buddies. * Dana Ashbrook ist ein Typ (und spielt Bobby Briggs, Lauras Ex-Verlobten). * Don S. Davis (Major Briggs), der auch in Stargate einen Militär spielt, ist auch in echt einer, Captain der US Armee. * Neben Kyle MacLachlan (Agent Cooper) wurden Sherilyn Fenn (für ihr böses Mädchen Audrey Horne) und Piper Laurie (für ihre hinterlistige Catherine Martell) für diverse Preise nominiert. * Die Episoden-Titel sind Rück-Übersetzungen der vom deutschsprachigen Erstausstrahler RTL erfundenen Titel. Lynch/Frost hatten die Episoden davor nur durchnummeriert.

Letztlich ist jeder Detective, jeder Cop, Private Dick, jeder Ermittler und Menschenforscher seit Twin Peaks ein Echo von Dale Cooper, Special Agent. Egal, ob das Clarice Starling, Sarah Lund oder Angelika Schnell sind, von den Grissoms und Gorens, von den Dexters und den diversen Mentalisten und X-Aktlern gar nicht erst zu reden. Was zuvor Columbo ausdefiniert hatte (gut zuhören, genau schauen, immer mitdenken, sorgfältige Schlüsse ziehen, am Ball bleiben und dabei bieder und freundlich bleiben), das ist seitdem Agent Coopers Gebiet (all dieses und dazu noch eine gute Prise Metaphysik und vor allem das Hineinhorchen in die eigene Traumwelt).

Dazu brach Lynch auch mit einer klassischen TV-Serien-Tradition: dass das Personal nämlich zwar seine Höhen und Tiefen haben, aber letztlich als für den Zuschauer hilfreiche Konstante zu funktionieren habe.
In Twin Peaks ist niemand konstant - alle Figuren durchlaufen einen, manchmal mehrere Reflexions-/Reifungs-Prozesse. Bis auf Deputy Hawk (der Native inmitten von zivilisationsirren Amerikanern) und Doctor Hayward, Donnas Vater (das ruhende altersweise Zentrum mehrerer sich auflösender Familien) bleibt da kein Stein auf dem anderen.

Natürlich hat Lynch mit Twin Peaks auch das eingeführt, was wir heute an jeder guten TV-Serie schätzen: die epische Erzählweise einer großen, über die einzelnen Episoden hinausgehenden Geschichte, die Vertiefung von Charakteren.

Krieg und Frieden den schwarzen und weißen Hütten

Dazu kommt, dass Lynch die große Gothic-Tradition der amerikanischen Ghost Stories auf ein gänzlich neues Level gehoben hat. Seine Ungeister sind nicht mehr nur irgendwelchen alten Mythologien entsprungen, sondern symbolisieren die neuen Monster der akuten menschlichen Grausamkeit. Dass dies alles in einer von Tannenwäldern, frischer Luft, wunderbarem Kuchenduft und dem besten Kaffee der Welt durchwehten Naturlandschaft stattfindet, ist umso bizarrer.

Die Selbstverständlichkeit und Respekthaftigkeit, mit der der von außen eingeflogene Cooper und das Team des Sheriffs mit der Loglady, Major Briggs, dem in Mr. Gerard wohnenden Dämon Mike, der einäugigen Nadine, dem furchterregenden Bob, dem grenzwertigen Dr. Jacoby und den anderen immer den größten Teil der Wahrheit mit sich allein ausmachenden Personal umgehen, ist auch darauf zurückzuführen, dass sie selber neben der Norm-Spur stehen: der nahe am Wasser gebaute Deputy Andy, die leicht aspergernde Lucy, der fast schon tourettehafte Agent Rosenfeld und natürlich der coole Crossdresser Denis/Denise - allesamt Figuren, die subtil genug gebaut sind, um auch in "Krieg und Frieden" bestehen zu können.
Und trotzdem ist es nur Fernsehen, leicht benutzbar trotz aller Verstörung und ungewöhnlicher Ideen und Blickwinkel.

Fire walk with me - Invitation to Love

Und natürlich ist heute einiges von dem, was Anfang der 90er bei legendären gemeinsamen Twin-Peaks-Schau-Sessions nachbesprochen werden musste, weil es einfach zu ungewohnt war, um es allein zu verarbeiten, heute Common Sense - weil Twin Peaks seit diesen Tagen die Standards neu definiert hat und die seither sozialisierte Generation gar nichts anderes mehr kennt.

Die Wiederbegegnung ist deshalb durchaus gefährlich.
Die mit der DVD-Box (ich halte aktuell bei Folge 25) ist entsprechend interessant, weil sie erstmals die Konfrontation mit der Originalsprache bringt - Anfang der 90er, also deutlich Prä-Netzfilesharing, gab es nix mit transantlatischem Austausch. Ob die auf arte geplante deutsche Fassung (man startet morgen mit dem Pilotfilm dem Test der Zeit standhält, wird sich weisen.
Werden die gespenstischen Spoken Word-Intros der Log Lady enthalten sein? Und werden alle Folgen der 2. Staffel, die sich zeitweise zieht wie ein Strudelteig, zu sehen sein? Nachdem die zentrale Geschichte, der Mord an Laura Palmer bereits nach 17 Episoden aufgeklärt ist, wird das Geschehen danach zunehmend zur fast schon parodistischen Soap Opera, quasi eine Variation der in den frühen Folgen immer wieder im lokalen TV gezeigten Soap "Invitation To Love". Nur das seltsame Fernduell mit dem an Frank Booth erinnernden Ex-Kollegen Windom Earle und das bitter-brillante Finale in der surrealen Traumwelt der "Black Lodge" mit ihren rückwärtssprechenden Zwergen und milden Riesen holt die Serie wieder zurück.

Play the log Lady Intro loud!

So lange wollte vor allem Lynch (der sich selber eine kleine, aber großartige Rolle als derrischer FBI-Chef reinschrieb) ja eigentlich gar nicht in Twin Peaks bleiben - aber nachdem sein Plan, den Laura-Palmer-Mord überhaupt nie aufzuklären, keine Zustimmung bei den Produzenten fand, war diese Exit-Strategie wohl vorprogrammiert. Und auch der gleichnamige Film, den Lynch als Prequel konzipierte, fand keinen Zugang mehr zum Thema, versackte als recht uninteressante Fingerübung gänzlich.

Nun hat Twin Peaks, die Serie, also ein höchst unbefriedigendes Ende, obwohl das Böse überführt wurde und ein paar schlechte Zustände verbessert werden konnten, einige Figuren ihr Seelenheil fanden, andere in Wahnsinn oder Tod abdrifteten. Das ist das Gegenteil einer runden Sache, da ist nix abgeschlossen und für die Ewigkeit bewahrbar.

Vielleicht rumort Twin Peaks deshalb noch in den Eingeweiden derer, die sich damals daran überessen haben, die sich damals einen Virus eingefangen haben, der sie nicht loslässt und der sie konditioniert hat für ein besseres und tieferes Verständnis für die Zwischen- und die Schattenwelten. Und ein schönes Stück Kirschkuchen.