Erstellt am: 17. 4. 2011 - 17:51 Uhr
Der große Vorratsdatenschwindel
Am Montag wird seitens der EU-Kommission der Evaluierungsbericht zur Vorratsdatenspeicherung vorgelegt. Wie bereits im Vorfeld bekannt wurde, ortet die Evaluierung zwar insgesamt schwere Mängel, an der Richtlinie selbst ändert sich nichts.
Den Bericht nennt der Präsident des Dachverbands europäischer Bürgerrechtsorganisationen European Digital Rights (EDRI), der Österreicher Andreas Krisch, eine "anekdotische Aufbereitung von Einzelfällen und unbelegten Einschätzungen" aus bestimmten Mitgliedsstaaten.
Unhaltbare Statistiken
Die von der EU-Kommission vorgelegten Statistiken sind laut Krisch nach wissenschaftlichen Kriterien nicht haltbar, da die Entwicklungen in Ländern ohne Vorratsdatenspeicherung in der Evaluierung schlichtweg nicht berücksichtigt wurden.
Österreich
Am 7. Aprіl 2011 hat die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung den Ausschuss für Forschung, Innovation und Technologie des Nationalrats passiert. Die Regierung will in Sachen Grundrechtekonformität weiter nachbessern, die Opposition sieht die Bevölkerung nach wie vor unter Generalverdacht gestellt.
In Deutschland war das Gesetz zur verpflichtenden Speicherung von Verkehrs- und Geodaten - wer wann von wo mit wem telefoniert, SMS oder E-Mails gewechselt hat - 2009 vom Bundesverfassungsgericht verworfen worden. Die Kriminalstatistiken zeigten sich völlig unbeeindruckt davon, ob den Strafverfolgern nun diese Datensätze zur Verfügung standen oder eben nicht.
Die verantwortliche EU-Komissarin Cecilia Malström focht das ebensowenig an, wie der Umstand, dass mit Tschechien nunmehr fünf nationale Verfassungsgerichte diese Maßnahme als grundrechtswidrig erkannt und aufgehoben haben.
Umgang mit Zahlenmaterial
Auch Österreich, wo ein entsprechendes Gesetz mit jahrelanger Verspätung auf dem Weg ins Plenum des Nationalrats ist, wurde nicht berücksichtigt. Das heißt, man hat alle Faktizitäten, die der Kommission nicht ins Bild passten, einfach ausgeblendet, frei nach dem Motto: Wir lassen uns diese Richtlinie nicht durch exaktes Zahlenmaterial kaputt machen.
Dafür habe die Kommission auch Zahlen vorgelegt, sagt Krisch, die sich zum Teil auf Straftaten bezögen, die vor dem Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung im betroffenen Mitgliedsstaat stattgefunden haben.
Polen als Hälfte Europas
Offene Briefe
Wie schon die quintessenz hat auch der Verein für Internetbenutzer Österreichs (VIBE!AT) einen offenen Brief in Sachen Vorratsdatenspeicherung an die Nationalratsabgeordneten gerichtet. Beide Vereine gehören der Dachorganisation EDRi an, die ihrerseits am Sonntag Nachmittag eine Analyse zur Vorratsdatenspeicherung veröffentlicht hat.
Die Kommission selbst ortet zwar ebenfalls gravierende Mängel in der Umsetzung der Richtlinie und gesteht ein, dass der Nachweis der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme nicht erbracht ist. Diese Frage werde erst in einem späteren "Impact Assessment" geklärt werden. "Eine beachtliche Aussage, wenn man bedenkt, dass der Evaluierungsbericht bereits vor sieben Monaten fällig gewesen wäre", sagt Andreas Krisch dazu.
Was der Evaluierungbericht tatsächlich an Zahlenmaterial enthält, ist umso bedenklicher. Von den zwei Millionen an die EU-Kommission gemeldeten europaweiten Zugriffen im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung kommt allein die Hälfte aus Polen.
Fleckerlteppich EU
Wie in der Slowakei werden die Daten in Polen zwei Jahre lang aufbewahrt, in Lettland gelten 18 Monate, das Gros der EU-Staaten teilt sich in zwei Gruppen mit zwölf bzw. sechs Monaten Speicherfrist.
Linz, Graz: Demos
In Österreich soll erstmals gegen die Umsetzung der Richtlinie demonstriert werden. Für kommenden Donnerstag sind Demonstrationen in Linz und Graz angekündigt.
In Deutschland, Bulgarien, Rumänien, Zypern und zuletzt auch Tschechien haben die Höchstgerichte die entsprechenden Gesetze als verfassungswidrig erkannt und aufgehoben, Österreich, Schweden und mehrere andere Länder haben noch nicht oder unvollständig umgesetzt.
In Großbritannien und Finnland, wo eine Rückvergütung für die Netzbetreiber vorgesehen ist, wurden viele kleinere Anbieter von der Vorratѕdatenspeicherung ausgenommen - weil für die Rückvergütungen an die Provider nicht genug Geld im Topf ist.
"Wildwuchs an nationaler Willkür"
In anderen EU-Staaten wird hingegen keine Entschädigung bezahlt, für Österreich wurden von Verkehrsministerin Doris Bures (SPÖ) Ausnahmeregelungen für Berufsgeheimnisträger also Ärzte, Anwälte, Journalisten und Seelsorger angekündigt.
Die Evaluierung der Richtlinie ist im Volltext auf der Homepage von MEP Aleaxander Alvaro nachzulesen.
"Einen Wildwuchs an nationaler Willkür" ortet der liberale Europaparlamentarier Alexander Alvaro, der den Volltext der Evaluierung vorab auf seiner Website veröffentlicht hat. Was als Richtlinie im Rahmen der "Harmonisierung des Binnenmarkts" angetreten war, hat zu einem Fleckerlteppich geführt, der buntscheckiger nicht sein könnte.